Was war nochmal die Frage?

Keen: Das digitale DebakelDas Internet sei nicht die Antwort, resümiert der amerikanische Autor und Unternehmer Andrew Keen in seinem Buch „Das digitale Debakel“.Alle Versprechen nach mehr Wohlstand, Demokratie und kultureller Vielfalt erwiesen sich als Fiktion. Nicht Offenheit und Vielfalt sei das Ergebnis der zunehmend vollständigen Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitalen Techniken und dem „Internet der Dinge“, sondern die Herrschaft des Pöbels und der Intoleranz, Voyerismus und eine vollständige Überwachung und Steuerung der Nutzer durch Apps. Das Internet sei gescheitert, aber Keen macht Vorschläge, wie es zu retten sei. Erfrischend ist die Direktheit der Sprache Keens:

„Die Zukunfts-Architekten aus Silicon Valley arbeiten nicht am Gemeinwohl, sondern an einer privatisierten vernetzten Wirtschaft und einer Gesellschaft, die niemandem nutzt als ihren mächtigen und reichen Eigentümern. Wie The Battery [ein exklusiver Privat-Club; rl] bewirkt das Internet mit seinen leeren Versprechen von Gerechtigkeit und Chancengleichheit unbeabsichtigt das genaue Gegenteil, das heißt, es macht die Welt in Wirklichkeit weniger gerecht, es vernichtet Arbeitsplätze und schadet dem wirtschaftlichen Gemeinwohl. (S. 17)

Persönliche Bereicherung werde mit gesellschaftlichem Nutzen gleichgesetzt, der Einzelne würde zum Egozentriker und Provinzler am Display:

„Das Internet mag ein Dorf sein, so Pariser, aber global ist es nicht. Das bestätigt eine Untersuchung des MIT aus dem Jahr 2013, die feststellte, dass sich der größte Teil der Internet- und Handykommunikation in einem Radius von 150 Kilometern um unser Zuhause abspielt. Die Wirklichkeit des Internets ist vermutlich noch Selfie-zentrischer, als dieser Bericht ahnen lässt. Wenn Nutzer mehr als ein Viertel ihrer Smartphone-Zeit mit Facebook und Instagram verbringen, findet ein Großteil der Internetkommunikation heute überwiegend in einem 150-Millimeter-Radius zwischen Gesicht und Handy statt. Der eigentliche Mythos ist, dass wir überhaupt kommunizieren. In Wahrheit sprechen wir in diesen »sozialen« Netzwerken vor allem mit uns selbst. In ihrem Bestseller Alone Together aus dem Jahr 2011 beschrieb MIT-Professorin Sherry Turkle diesen Zustand als »gemeinsam einsam« – eine treffende Beschreibung des Internets, in dem wir umso einsamer werden, je mehr wir teilen und mitteilen. (S.135)

Neben  der „Vereinsamung durch ständige Kommunikation“ mit sich selbst (oder bestenfalls mit Social Bots, d.i. Software, die so tut, als sei sie ein Gegenüber) – steht die soziale und ästhetische Normierung. Statt Vielfalt herrsche Einfalt und es entstehen Monokulturen. Algorithmen und Empfehlungen führten dazu, dass das immer gleiche geliked und gehypt wird.

 „Je mehr Inhalte im Internet zur Auswahl stehen, umso dramatischer der Unterschied zwischen den wenigen Superhits und dem ganzen Rest, der völlig im Dunkeln verschwindet. Elberse schreibt, dass sich im Jahr 2011 von den 8 Millionen Titeln im iTunes-Store 94 Prozent, also 7,5 Millionen Titel, weniger als hundertmal verkauften, und 32 Prozent sogar nur ein einziges Mal. (S. 173)

Das Internet schaffe auch keine Arbeitsplätze, sondern zerstöre bestehende Infrastrukturen und Sozialgemeinschaften. Das Silicon Valley zeige exemplarisch, was auch andere Gemeinschaften unter dem Diktat der digitalen Ökonomie zu erwarten haben: die extreme soziale Spaltung.

Die Zahlen des Geografen Joel Kotkin von der Chapman University belegen, dass in Silicon Valley seit dem Dotcom-Crash im Jahr 2000 massenhaft Arbeitsplätze abgebaut wurden und in den vergangenen zwölf Jahren rund 40 000 Stellen verloren gingen. Diese Erkenntnisse werden durch einen Bericht der Bürgerinitiative Koint Venture Silicon Valley aus dem Jahr 2013 bestätigt; er fügt hinzu, dass die Zahl der Obdachlosen in Silicon Valley von 2011 bis 2013 um 20 Prozent stieg und dass so viele Lebensmittelmarken ausgegeben wurden wie seit zehn Jahren nicht mehr. In Santa Clara County, dem Zentrum des Silicon Valley, stieg der Anteil von Menschen unter der Armutsgrenze im gleichen Zeitraum von 8 auf 14 Prozent, und die Zahl der Einwohner, die Lebensmittelmarken bezogen, schoss von 25 000 im Jahr 2001 auf 125 000 im Jahr 2013. (S. 234)

In Wahrheit sei die Silicon Valley Economy gescheitert, die Share-Economy sei eine egoistische Ökonomie für kleine Eliten von Programmierern, die sozialen Medien seien asozial und letztlich sei Digitalisierung, wie sie derzeit betrieben werde, ein einziges Scheitern.

Aber die Wahrheit, die wirkliche Wahrheit über das Scheitern, ist das Gegenteil der Hochglanzversion, wie sie von den aalglatten Propheten der Zerstörung aus Silicon Valley verkündet wird. Wirkliches Scheitern, das ist eine 36-Milliarden-Dollar-Branche, die innerhalb eines Jahrzehnts auf 16 Milliarden Dollar zusammenschrumpfte, weil knallharte Libertäre wie Travis Kalanick Produkte erfanden, die ihre Werte zerstörten. Wirkliches Scheitern, das ist ein Einbruch von 12,5 Milliarden Dollar beim Jahresumsatz, ein Abbau von 71 000 Stellen und ein geschätzter Gewinnverlust von 2,7 Milliarden Dollar pro Jahr dank »innovativer« Produkte wie Napster und Scour. Wirkliches Scheitern, das ist der durch Online-Diebstahl verursachte Umsatzrückgang von 55 Prozent, wie ihn die spanische Musikbranche zwischen 2005 und 2010 erlebte. (S. 228)

Die Brave New Digital World erweist sich als eine Mischung aus Turbo-Kapitalismus, neoliberalem Utilitarismus und der Entrechtung des Bürgers durch eine digitale Diktatur der Monopole und Daten. So weit ist Keen zuzustimmen. Ob seine Folgerungen und Forderungen die notwendige Wende brächten oder noch zu kurz greifen, wird zu diskutieren sein. Eine rechtliche Grundlage auch für Digitalfirmen zu schaffen (Primat des Rechts) und Monopole aufzubrechen wie es Roosevelt einst mit Standard Oil und AT&T gemacht hat, wäre ein sinnvoller, erster Schritt. Zugleich sind die militärischen und geheimdienstlichen Interessen (und Aktionen) transparent zu machen. Denn des Versprechen von Sicherheit kostet jegliche Freiheit, ohne Sicherheit bieten zu können. Hier haben in den USA noch die Kybernetiker das Sagen, die alles, auch menschliche Gemeinschaften, mit Daten kontrollieren, steuern und manipulieren wollen. Zu hinterfragen ist auch, ob diese ganzen Apps und Dienste notwendig, sinnvoll und nützlich sind oder Menschen zu „Konsumäffchen“ (Eva Heller) degradiert werden, die arbeiten, um sich anschließend vor dem Display sagen zu lassen, wer sie sind und was sie tun wollen. Denn das, was Apple, Facebook, Google & Co. heute im Web praktizieren, ist ein Laborversuch am lebenden Objekt: der community. So absurd der Grundgedanke des Internet war (Atomwaffen noch losschicken zu können, wenn die feindliche Raketen schon im Anflug sind), so absurd ist das, was derzeit aus dem Web geworden ist.

»Was für eine Gesellschaft schaffen wir hier eigentlich?«, fragt Jarvis. [Jeff Jarvis, »What Society Are We Building Here?«, BuzzMachine, 14. August 2014.rl] Diese Frage sollte am Anfang jedes Gesprächs über das Internet stehen. Ob es uns gefällt oder nicht, die digitale Welt verändert unsere Gesellschaft mit atemberaubender Geschwindigkeit. Arbeit, Identität, Privatsphäre, Gerechtigkeit und Miteinander, alles verändert sich in der vernetzten Gesellschaft. Auch wenn das Internet (noch) nicht die Antwort ist, bleibt es die entscheidende Frage im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts. (S. 270)

Aber was war denn die Frage? Das Buch von Keen liefert darauf zwar auch keine Antwort, aber es ist eine vollständige Desillusionierung des Silicon Valley. Das wiederum ist ein wichtiger, erster Schritt, um sich aus der digitalen Verblendung (und die Augen vom Display) zu lösen, um wieder in die reale Welt zu schauen und da aktiv zu werden.

Andrew Keen: Das digitale Debakel, München: dva, 2015