Warum wir jetzt kämpfen müssen

Wenn wir Menschen durch diese Vernetzung nur noch die Summe unserer Daten sind, in unseren Gewohnheiten und Vorlieben komplett abgebildet und ausgerechnet, dann ist der gläserne Konsumbürger der neue Archetyp des Menschen. Schon heute ist es das Geschäftsmodell von Facebook und anderen, unsere emotionalen Regungen und sozialen Beziehungen in ein ökonomisches Verwertungsmodell zu überführen und unsere Daten gewinnbringend zu nutzen. Wenn die Messung unseres Augenzwinkerns oder die Beschleunigung unsere Pulses beim Ansehen bestimmter Produkte in Echtzeit in die Datenbank von multinationalen Konzernen fließen, ist der neue Mensch nur noch die Summe seiner Reflexe, und er wird biologistisch komplett determiniert. Am Ende könnte eine solche Entwicklung dazu führen, dass wir nur noch über jene Kaufangebote informiert werden, die vermeintlich zu uns passen. Und der Schritt, dass wir dann auch nur noch die politischen und kulturellen Informationen erhalten, die unserem vermuteten Interessen entsprechen, ist ein kleiner. Damit wäre dann die Vorstellung vom Menschen, der sich frei entwickeln und der es durch Bildung und harte Arbeit nach „ganz oben schaffen“ kann, endgültig erledigt. Ein neuer Mensch würde entstehen: der determinierte Mensch. (…)

Noch haben wir es nur mit einer alles durchdringenden Technologie, aber noch nicht mit einem totalitären politischen Willen zu tun. Doch die Verbindung von „big data“, also der gewaltigen Sammelleidenschaft für Daten durch Private und den Staat, und „big government“, also der hysterischen Überhöhung von Sicherheit, könnte in die antiliberale, anti-soziale und antidemokratische Gesellschaft münden. Wenn der Bürger nur zum Wirtschaftsobjekt degradiert wird und der Staat ihn unter Generalverdacht stellt, kommt es zu einer gefährlichen Verbindung von neoliberaler und autoritärer Ideologie.

Der Beitrag von Martin Schulz eröffnet die von Frank Schirrmacher initierte Digitaldebatte in der FAZ (6. Februar 2014), die bis heute fortgesetzt wird. Es ist das Verdienst von Schirrmacher zu erkennen, dass es primär nicht um technische und wirtschaftliche Aspekte geht, sondern um den Umbau der Gesellschaft als Sozialgemeinschaft und potentiell um die Errichtung autoritärer (Kontroll-)Systeme. Es ist das Verdienst von Martin Schulz, mit diesem Beitrag als EU-Politiker die Reichweite mit klaren Worten anzusprechen und den Diskurs über tatsächliche und mögliche Entwicklungen zu fordern.

Technologischer Totalitarismus: Warum wir jetzt kämpfen müssen
Martin Schulz in der FAZ vom 6. Februar 2014; F. Schirrmacher (2015) Technologischer Totalitarismus, S. 19

Weitere Beiträge der Serie auf FAZ online: Digitaldebatte der FAZ

Textfassung ausgewählter Beiträge: Frank Schirrmacher (Hrsg.): Technlogischer Totalitarismus. Eine Debatte. Berlin: Suhrkamp, 2015