Das schöpferische Ich an Touchscreen und Tastatur?

oder: Autonomie im Kontext von Kreation und Gestaltung im digitalen Umfeld

in: Breyer-Mayländer (2018) Das Streben nach Autonomie. Reflexionen zum digitalen Wandel. Herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Breyer-Mayländer, S. 189-197, ISBN 978-3-8487-3929-5

»Gerade in einer Welt mit hoher Innovationsgeschwindigkeit sind alte Lebensformen am wenigsten veraltungsanfällig, weil sie schon alt sind. (…) So sollte man sich beim modernen Dauerlauf Geschichte – je schneller sein Tempo wird – unaufgeregt überholen lassen und warten, bis der Wettlauf – von hinten überrundend – wieder bei einem vorbeikommt; immer häufiger gilt man dann bei jenen, die überhaupt mit Avantgarden rechnen, vorübergehend wieder als Spitzengruppe: so wächst gerade durch Langsamkeit die Chance, up to date zu sein.« Odo Marquardt (2003: 241)

Wer sich mit der Fragestellung von Autonomie – verstanden im ursprünglichen Sinn von Selbständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber Anderen und vorherrschenden (hier: ästhetischen) Positionen – im Zusammenhang mit Kreation und Gestaltung beschäftigt, merkt schnell, dass bei aller Aktualität heutiger Digitaltechnik ein uraltes Thema auftaucht: die grundsätzliche Abhängigkeit des schöpferischen Aktes der Poiesis (dem Hervorbringen von Werken) von Technik und Material, von Handwerk und Produktionsbedingungen

Der Bleistift ist weder Pinsel noch Radiernadel, die Maus sondert kein Pigment ab und der Touchscreen ersetzt keine Leinwand. Gleichwohl sind Digitaltechniken alltägliche Werkzeuge des Gestaltens geworden, wenn auch mit spezifischen Charakteristika. Grundsätzlich gilt: Analoge wie digitale Techniken geben die technischen Rahmenbedingungen vor, mit denen entwickelt und gestaltet werden kann. Gleiches gilt für den Produktionsprozess und die möglichen Ergebnisse. Dafür wurden im Griechischen, neben dem Begriff der „poiesis“ als humanes Potential, die Termini „technē“ bzw. „ars“ benutzt, im Lateinischen der Begriff „artes“. Diese Termini bezeichneten nicht „die Künste“, wie man fälschlicherweise denken könnte, sondern im Gegenteil das praktische Wissen als Kunstfertigkeit und Handwerk. Daraus leiten sich im angelsächsischen Sprachraum bis heute Ausdrücken wie „Arts and Crafts“ (als Handwerkskünste) im Gegensatz zu den „Fine Arts“ ab. (Lankau 2014:55). Diese Fertigkeiten, Kenntnisse und das zugehörige handwerkliche Können werden notwendig durch eigene Praxis gewonnen und durch regelmäßiges Üben bewahrt. Handwerkstechniken können als Gestaltungslehren unterrichtet werden.

(Digital-)Technik als Werkzeug und das „Surplus“

Heutige Werkzeuge der Mediengestaltung und -produktion sind, nicht nur im kommerziellen Segment, sondern auch im freien gestalterischen Arbeiten, immer öfter Digitaltechniken. Diese Rechner- und Netzwerktechniken verändern, in Verbindung mit Internet bzw. World Wide Web, Funknetzen und Cloud Computing (als Basis für verteilte Kooperationen und Produktionen) sowohl die Herstellung wie die Distribution von Medien grundlegend. Zugleich zeigt sich, dass bei Fragen der Kreation (Ideenfindung) und Gestaltung (Entwurf) – also den Prozessen vor der technischen Realisierung und Produktion (Lankau, 2007: 303f.) – das alte Spiel gilt: Die Beherrschung von Handwerk und Werkzeug ist die notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung, um eigenständig Ideen zu realisieren bzw. Werke zu schaffen, die mehr als technisch korrekte Produktionen sind. Es fehlt, was im geisteswissenschaftlichen und ästhetischen Kontext bewusst umschreibend mit „Surplus“ bezeichnet wird, das besondere Etwas, was erst eine Zeichnung, ein Objekt oder auch eine Architektur zu einem gelungenen Beispiel guter Gestalt(ung) macht. Denn eine Handzeichnung ist technisch immer eine Handzeichnung, und doch gibt es Unterscheide nicht nur in der gestalterischen Qualität, sondern vor allem in der aisthetischen (sinnlichen) wie ästhetischen Qualität, der Anmutungsqualität und letztlich der Wirkung.

Die Frage des Kunstanspruchs bleibt hier übrigens außen vor. Die Wertung eines Werks als Kunstwerk ist immer eine Frage der Wertung und nicht des Werks. Wertungen und Wertmaßstäbe aber sind kulturell und historisch bedingt und damit variabel. Die Frage nach Autonomie im Gestaltungsprozesses liegt somit auf dem Wechselspiel von Material und Technik auf der einen, dem notwendigem Handwerkszeug und den Folgen für Gestaltungsprozess und Ergebnis auf der anderen Seite.

Der Blick zurück: Gestalten als Grundbedürfnis (Schwäbische Alb)

Im Juli 2017 sind sechs Höhlen auf der Schwäbischen Alb zum 42. deutschen Weltkulturerbe deklariert worden. Die Höhlen sind Fundorte der ältesten mobilen Kunstobjekte der Welt und zwischen 35.000 und 43.000 Jahre alt. Ein Team von Archäologen um den Tübinger Nicholas Conard fand Anfang der 2000er Jahre dort über 50 aus Elfenbein und Knochen geschnitzte Tierfiguren, acht Flöten und die nach ihrem Fundort benannte „Venus vom Hohlefels“. Die Dichte der Funde und die Bedeutung des Ensembles für die Geschichte der Entwicklung der Künste seien weltweit einzigartig, so der Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission Prof. Dr. H. Lüdtke:

„Die Höhlen und Eiszeitkunst im Schwäbischen Jura sind ein einzigartiges Beispiel unserer Menschheitsgeschichte. Die dort gefundenen Kunstwerke und Musikinstrumente spiegeln das handwerkliche Können der ersten modernen Menschen wieder und zeigen, welche Rolle Kunst und Kultur bereits vor 40.000 Jahren gespielt haben“ (Dt. Unsesco-Kommission, 2017)

Handwerkliches, hier: manuelles Können sind Grundlage für Werke der Kunst und Kultur. Vergleichbar sind diese Funde nur mit den Höhlenmalereien aus Lascaux oder den Wandzeichnungen in der Höhle von Chauvet. Werner Herzog hat diesen bislang ältesten, erhaltenen Zeichnungen im 3D-Film „Die Höhle der vergessenen Träume“ ein audiovisuelles Denkmal gesetzt. Digitaltechnik lässt Artefakte aus der Steinzeit lebendig werden.

Die überlieferten Figuren wie die Malereien und Zeichnungen sind dabei beeindruckende Beispiele für den Gestaltungswillen des schöpferischen Menschen, der trotz (oder wegen?) extremer Lebensumstände nicht nur utilitaristisch (zweckgebunden), sondern ästhetisch und experimentell agiert. Bereits der Eiszeitmensch findet Muße für das Gestalten mit vorhandenem Material und bearbeitet es im Rahmen seiner Möglichkeiten. Dazu entwickelt und nutzt der „Homo faber“ (= der sich Werkzeuge schafft) spitze Steine lange vor ersten Bronzewerkzeugen. Als Homo ludens (= der spielende Mensch) experimentiert er mit Material und Werkstoffen und schafft so – durch Neugier, Zufall und spielerisches Ausprobieren z.B. Blasinstrumente. Wir können zwar nicht wissen, ob und ggf. in welchem rituellen oder religiösen Kontext Figuren und Instrumente der schwäbischen Alb bzw. die Höhlenmalereien in Südfrankreich entstanden sind. Aber es sind faszinierende Belege für den schöpferischen Menschen, der mit minimalen Mitteln etwas formt, gestaltet und in seinen eigenen Kontext von Handlung, Glaube oder Ritual einbindet. „Die Seele des Menschen erwacht“ heißt es dazu im Film von Werner Herzog.

Gestaltungswille gegen den Code: Killer Websites (David Siegel)

Mit geradezu entgegengesetzten Voraussetzungen starteten die ersten Webdesigner, die Mitte der 1990er Jahre versuchten, aus den typographischen Textwüsten des frühen „Scientific“ Web visuell grafisch ansprechende Webseiten zu gestalten. Tim Berners-Lee hatte 1989 am CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) das WorldWideWeb (ohne Leerzeichen) als offene und hierarchiefreie Kommunikationsplattform für Wissenschaftler entwickelt. Ziel war die logische Strukturierung von Texten durch Auszeichnungssprachen (HyperText Markup Languages), die jeder Rechner anzeigen konnte. An Design oder Layout hatte niemand gedacht.

David Siegel und andere, amerikanische Typographen und Grafikdesigner hatten das kommunikative Potential des World Wide Web (mit Leerzeichen als kommerzielles Internet) als neues Kommunikationsmedium schnell erkannt. Sie wussten zugleich, dass das wissenschaftliche, textlastige Web für „normale“ (nicht computeraffine) Nutzer erst interessant würde, wenn sich Webseiten mit ihrem Design und Layout eher an lesefreundlichen, gedruckte Magazinen und den seit Mitte der 1980er Jahre üblichen Multimedia-Anwendungen im Macromedia-Direktor-Style orientieren als an wissenschaftlichen Texten.

Die Lösung: Ein kreativer (wenn auch technisch widersinniger) Einsatz der benutzten Techniken und Parameter (Stichworte: Layouttabellen, Ein-Pixel-Grafiken, Bildfonts.) Das Ergebnis: grafisch und typografisch ansprechende, dafür fest definierte Layouts wie bei Print statt der im Web intendierten Flexibilität. Das funktionierte selbstredend weder mit jedem Rechner noch mit allen Betriebssystemen. So entstanden Hinweise wie „Best viewed with…“ und dem Nennen bestimmter Browser. Der Anspruch, im Web wie im Print gestalten zu können, verursachte im Umkehrschluss technische Zwänge für die User und schränkte die plattformübergreifende Nutzbarkeit der Seiten ein. Die Segmentierung des Web nach Hard- und Softwarebestand nahm hier den Anfang.

Das ließe sich zwar heute korrigieren. Mit der aktualisierten Spezifikation von HTML 5 sind typographisches Arbeiten, Animationen und Interaktionen nach HTML-Spezifikation technisch möglich. Nur hat sich mittlerweile ein Großteil des kommerziellen Web in datenbankbasierte Content Management Systeme (CMS) mit MySQL-Datenbanken und PHP als Skriptsprache verlagert. Weitere Skriptsprachen (JavaScript, Perl, Python, Ruby & Co.) mögen die funktionalen Optionen des Web weiter erhöhen, können allerdings vom Nutzern weder kontrolliert noch abgeschaltet werden, ohne auf Funktionalität zu verzichten. So wird die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit zumindest der Nutzer – selbst ohne Big Data Analyzing und dem Auswerten der Nutzerdaten – immer weiter eingeschränkt. Wer das Web nutzt, wird durch den permanenten Rückkanal und das Scannen und Auswerten aller Aktionen selbst zum Datensatz, der sich aus Nutzer-, Bewegungs- und Persönlichkeitsprofil zusammensetzt. Big Data is watching and profiling you.

Netzwerke als technisches Regulativ und Kontrollinstanz

Steigt wenigstens die Autonomie der Gestalter? Nein. Denn durch Software-Leasing (statt Kauf) und der Produktion in der Cloud (statt lokal auf dem eigenen Rechner) werden auch die Entwickler zunehmend an die „digitale Leine“ genommen. Leasingraten können ebenso erhöht wie die Entwickler und Produzenten nach Belieben von ihren eigenen Daten ausgesperrt werden, wenn z.B. neue AGBs durchgesetzt werden sollen. Mitunter genügt eine defekte Kreditkarte, um unvermittelt offline zu sein und auf die eigenen Projekte und Daten nicht mehr zugreifen zu können. Diese Entmündigung von Produzenten wie Konsumenten ist Teil des Systems – und es ist als systemimmanent bekannt. Digital- ist ein Synonym für Kontrolltechnik. Der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler formulierte bereits 1995 – noch vor dem ersten Internethype um die Jahrtausendwende– im Gespräch mit Paul Virilio:

»Ich kann nur sagen, der Computer ist nicht erfunden worden, um den Menschen zu helfen. In Wahrheit sind beide, Atombombe und Computer, Produkte des zweiten Weltkriegs. Kein Mensch hat sie bestellt, sondern die militärische und strategische Situation des zweiten Weltkriegs hat sie notwendig gemacht. Es waren von vornherein keine Kommunikationsmittel, sondern Mittel des totalen Kriegs, die jetzt als spinoff in die Bevölkerung hineingestreut werden« (Kittler 2002: 136f)

Während John Perry Barlow 1996 vom Cyberspace als „der neuen Heimat des Geistes“ schwärmte, die humaner und gerechter sein möge „als die Welt, die Eure Regierungen bislang errichteten“ konstatierte Kittler schon ein Jahr zuvor nüchtern:

„Das Netz wird auch bestenfalls dieses Jahr noch frei sein, im nächsten Jahr gehört es wahrscheinlich dem großen Geld, und dann funktionieren die Kontrollen.“ (Kittler 2002: 144)

EU-Präsident Martin Schulz sprach 2014 erstmals vom „Technologischen Totalitarismus“, den man bekämpfen müsse (Schulz 2014: 25 und Schirrmacher 2015: 15f). Einer der wichtigsten liberalen Vordenker Deutschlands, Ralf Dahrendorf, hat bereits 1997 in einem Beitrag in der ZEIT zur Globalisierung und deren sozialen Folgen formuliert, dass wir an der der Schwelle zu einem autoritären Jahrhundert stehen:

„Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert.“ (Dahrendorf 1997)

Von manueller Autonomie zu digitalem Autoritarismus?

Die schwäbischen Figurenschnitzer aus der Steinzeit bzw. die Zeichner in den Südfranzösischen Höhlen sind in dieser Gegenüberstellung somit der eine Extrempol für poietisches Handeln: voraussetzungslos, da es weder Vorbilder noch Werkzeuge oder definierte Arbeitsabläufe gab. Der Mensch schöpfte aus sich heraus, hatte vielleicht eine Idee oder Vorstellung im Kopf und experimentiert mit Pigmenten, Asche oder scharfen Steinen, die sich erst im Gestaltungsprozeß selbst als mögliches Werkzeug oder brauchbares Material erweisen musste. Waren sie deswegen autonom in ihrem Tun?

Heutige Digitaltechnik, mit ausgefeilter Software für alle erdenklichen Medienproduktionen samt Distribution, Rückkanal und jederzeit möglicher Kontrolle übers Netz ist nicht nur technisch der Gegenpol. Wer heute gestaltet, steht zugleich in der Kultur- und Mediengeschichte der letzten Jahrtausende und ist geprägt durch das eigene kulturelle und mediale Umfeld. Dazu kommt eine determinierende Technik, die in der aktuellen, netzbasierten Variante mit Software-Leasing und Cloud Computing schon den Anspruch auf Autonomie ad absurdum führt. Funktionsänderungen durch die Anbieter sind genau so möglich wie Funktionseinschränkungen oder Kontensperrung, aus welchen Gründen auch immer. Und auch ästhetisch müssten die meisten Gestalter/innen wohl erst einmal eine länger Abstinenzphase einlegen, um nicht auf die alltägliche Bilderflut zu re-agieren. sondern eigene Bildvorstellungen entwickeln zu können.

Dazu kommt das nivellierende Arbeiten am Bildschirm bzw. Touchscreen. Es gibt weder Formatunterschiede (eine Briefmarke wird am gleichen Bildschirm gestaltet wie ein Großflächenplakat) noch unterschiedliche Materialitäten bei Klang, Bewegtbild oder Print, weil alles zum Digitalisat und zur Datei wird. Dazu kommt die stetig steigende Zahl an vorgefertigten Elementen und Vorlagen (Templates, Bibliotheken, Code-Bausteinen), die aus Kosten- und Effizienzgründen zusammengesetzt statt selbst entwickelt werden – mit dem Ergebnis, dass selbst Informatiker immer weniger programmieren (können). Man verlernt, was man nicht regelmäßig praktiziert. Wenn dann noch vermeintliche „intelligente Systeme“ der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ das Coden selbst übernehmen (sollen), ist abzusehen, dass der Mensch nur Teil einer immer komplexer werdenden Maschine werden könnte. Das wäre ziemlich exakt das Gegenteil von Autonomie. Was tun also?

IT neu denken

Wer, wie der Autor, seit über 30 Jahren mit Rechnern und Software arbeitet und die Entwicklung verfolgt, weiß, dass in den letzten Jahren einige Dinge in eine kritische Richtung laufen. Aus einem nützlichen Werkzeug wurde durch Monopolstrukturen ein Kontroll- und Überwachungsinstrument, bei dem der Nutzer gemäß der Interessen weniger IT-Konzerne mit Informationen und Angeboten „versorgt“ und letztlich gesteuert werden soll.

Das ist weder notwendig noch alternativlos. Es gibt dazu einen erfreulich knappen und präzisen Vorschlag, der die derzeitigen Datensammel- und Verfügungsverhältnisse umkehrt. Norbert Schneider, bis 2010 Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, möchte aus der praktizierten Transparenz des »gläsernen Nutzers« eine Transparenz der Datensammler machen. Für die gesellschaftliche Kontrolle der Datensammlungen genügen, so Schneider, »im Grunde zwei Paragraphen.

Paragraph 1: „Die Daten eines Menschen sind sein Eigentum. Wenn sie jemand nutzen möchte, dann zu den Bedingungen, die dafür allgemein festgelegt werden. Wer sie zur Kontrolle eines Menschen nutzt, verletzt seine Würde.“

Paragraph 2 könnte lauten: „Der gesamte Datenverkehr muss für den Datengeber jederzeit transparent sein.“ (Schneider 2010: 33).

Zwei weitere, wichtige Begriffe der neu zu entwickelnden IT-Strukturen (nicht nur für Gestalter/innen, sondern z.B. auch für Bildungseinrichtungen) lauten:

  • Datensparsamkeit: Nur die definitiv benötigten personenbezogenen Daten werden so lange gespeichert, wie es für die technische Abwicklung des jeweiligen Vorgangs nötig ist; danach werden sie gelöscht.
  • Dezentralisierung in geschlossene und verschlüsselte Teilnetze: Je zentralisierter Strukturen sind, desto anfälliger werden sie für Datenhacks und Cyberangriffe.

Die derzeit favorisierte digitale Monokultur mit einheitlichen Strukturen der Hard- und Software sorgt zwar bei den Anbietern für hohe Umsätze, ist organisatorisch und sicherheitstechnisch jedoch eine Katastrophe. Statt technischen Monokulturen sind variable und vor allem lokale Strukturen zu entwickeln. Das Motto – nicht nur für Technik – heißt: Vielfalt statt Einfalt. Das führt zwar nach Aussage von Google-Chef Eric Schmidt zu einer »Balkanisierung des Web«, weil nicht mehr ein amerikanisches Unternehmen (konkret: Google bzw. Alphabet) auf alle Daten Zugriff hat. (Handelsblatt 2013) Aber solche Äußerungen sind aus europäischer, juristischer und datenschutzrechtlicher Sicht eher als Ansporn zu verstehen.

Ungestört und konzentriert nur offline

Dazu kommt die Trennung von Arbeits- und Kommunikationsrechnern. Die wenigsten Menschen müssen während oder für ihre Arbeit ständig im Netz sein. Arbeits- und Produktionsrechner sind daher offline und werden allenfalls bei notwendigen Updates vom Systemadministrator kurz ans Netz gehängt. Für Netzanwendungen (Kommunikation, Publikation von Inhalten, Recherche) arbeitet man mit dem Zweitrechner, meist einem Laptop. So kann man an dem einen Rechner ungestört, unterbrechungsfrei und konzentriert arbeiten und sich die Online- und Surfzeiten am Laptop selbst einrichten (und sich auch selbst disziplinieren).

Gleiches gilt für Schulen: Arbeits- und Produktionsrechner für Medienprojekte sind offline, einzelne Rechner oder Laptops für die Recherche und die externe Kommunikation sind im Netz. In Schulen wird man Netzzugänge darüber hinaus per Kabel statt WLAN präferieren. So kann man sowohl räumlich wie zeitlich steuern, wer wann ins Netz gehen kann und auf welche Seiten Schüler/innen zugreifen können. Wird dann noch konsequent mit Open-Source-Software gearbeitet, macht man sich sowohl von Cloud Computing, Update-Zyklen und den Preisvorstellungen der Anbieter unabhängig. Vor allem aber ist der permanente Rückkanal unterbrochen, der bei Onlinerechnern sonst zur permanenten Profilierung der Nutzer führen würde. Es ist aber weder Aufgabe von Schulen noch ist es rechtens, Lerndaten von Schülerinnen und Schüler zu sammeln, um daraus Lernprofile zu erstellen. In den USA ist das Tracken von Schülerdaten an und zwischen Schulen verboten (COPPA: Childrens Online, Privacy Protection Act). Das sollte der Mindeststandard an deutschen Schulen werden.

Das sind erste, konkrete Anregungen für die Praxis. Dahinter steht der Grundgedanke, dass wir erst wieder lernen müssen, Informationstechnik als Werkzeug nach unseren Regeln einzusetzen und uns technisch ermächtigen müssen, um in einer zunehmend digital gesteuerten und fremdbestimmten, kontrollierten Welt zu bestehen und selbstbestimmt zu handeln.

Agieren statt nur zu reagieren oder zu konsumieren – das wäre eine sinnvolle Devise für den – erst noch neu zu konzipierenden – Umgang mit IT und Netzwerkdiensten. Statt der Heilslehren der „Hohepriester der Tech-Sekten aus Kalifornien“(FAZ 2016: 1) zu folgen und sich aus Bequemlichkeit selbst zu entmündigen, sollte jeder Einzelne sich die Prinzipien der Aufklärung zu eigen machen. Aufklärung bedeutet, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um durch logisches und rationales Denken und Vernunftentscheidungen ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Das gilt noch stärker für das gestalterische Arbeiten. Denn neben der Rückgewinnung der Autonomie über die Werkzeuge gehört die Besinnung auf das individuelle Vorstellungsvermögen und eigene Ideen – statt die ästhetischen Vorgaben des Mainstream zu vervielfältigen. Eigenständige Bildwelten und Geschichten kann nur entwickeln, wer den Kopf vom Display oder Touchscreen hebt, die digitale Blase verlässt und sich wieder in der Realwelt verortet. Dort reichen dann ein Blatt Papier und ein Stift, um mit dem Finden von Ideen und dem Gestalten zu beginnen. Stift und Papier? Das mag wenig scheinen, ist aber ungleich mehr als unsere Vorläufer in der Schwäbischen Alb oder in den Höhlen von Lascaux und Chauvet vorfanden. Wenn das Blatt dann trotzdem leer bleibt, liegt es nicht am Werkzeug. Aber es ist der richtige Schritt, um sich wieder an das Wesen des autonomen Gestaltens heranzutasten, das nicht dem Werkzeug zuzuordnen ist, sondern dem Individuum.

Literatur

Barlow, J. P. (1996) A Declaration of the Independence of Cyberspace; www.eff.org/cyberspace-independence (27.8.2017); dt.: Eine Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace, Heise online: www.heise.de/tp/features/Unabhaengigkeitserklaerung-des-Cyberspace-3410887.html (27.8.2017)

Dahrendorf, R (1997) Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit. An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert.In: Die Zeit vom 14. November 1997; http://www.zeit.de/1997/47/thema.txt.19971114.xml (25.7.2017)

Dt. UNESCO-Kommission (2017) Höhlen und Eiszeitkunst im Schwäbischen Jura sind UNESCO-Welterbe. Welterbekomitee würdigt Höhlen in Baden-Württemberg als einzigartiges Zeugnis der Eiszeit; https://www.unesco.de/kultur/2017/hoehlen-der-aeltesten-eiszeitkunst-sind-unesco-welterbe.html (25.7.2017)
FAZ (2016) Ihr Handy ist ja noch an. Bildunterschrift des Aufmacherbildes der FAZ vom 12.10.2016 mit einem Foto von Storm Thorgerson, das als Plattencover von Pink Floyds „Wish You Where Here“
Handelsblatt (2013) Schmidt fürchtet „Balkanisierung” des Internets, http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/ex-google-chef-schmidt-fuerchtet-balkanisierung-des-internets/8129062.html (27.8.2017)

Hofstetter, Y. (2014) Sie wissen alles. Wie intelligente Menschen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen, München, Bertelsmann

Kittler, Friedrich: Short Cuts, Frankfurt: Zweitausendeins, 2002

Lankau, R (2017) Kein Mensch lernt digital. Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht, Beltz, Weinheim

Lankau, R. (2014) Gestalten als Form der Erkenntnis. Kreativität und (Digtal-)Technik in Kunstpädagogik und Mediengestaltung, kopaed, München

Lankau, R. (2007) Lehrbuch Mediengestaltung. Grundlagen der Kommunikation und Visualisierung, dpunkt: Heidelberg

Lobe. A. (2017) Die Gesellschaft wird um Computer, in: Die Zeit vom 19.7.2017, http://www.zeit.de/2017/30/smartphone-gesellschaft-iphone (25.7.2017)
Marquard, O. (2003) Zukunft braucht Herkunft, Philosophische Essays, Ditzingen: Reclam, 2003

Schirrmacher, F. (2015) Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Hrsg. v. F. Schirrmacher, Berlin: Suhrkamp

Siegel, D. (1996) Creating Killer Web Sites, dt.: Web-Site-Design, München: Markt und Technik

Schneider, N. (2010) Die digitalen Menschenleser. FAZ vom 10. 8.2010, S. 33

Schulz, M. (2014) Warum wir jetzt kämpfen müssen, FAZ vom 6.2.2014, S. 25; online unter; Technologischer Totalitarismus. Warum wir jetzt kämpfen müssen , http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/politik-in-der-digitalen-welt/technologischer-totalitarismus-warum-wir-jetzt-kaempfen-muessen-12786805.html (letzter Zugriff: 25.7.2017)

Der Beitrag als PDF: Lankau: Wider die Heilslehren des Digitalen (Autonomie-Buch)

Vita

Lankau, Ralf Dr. phil,. Grafiker, Philologe und Kunstpädagoge, seit 2002 Professor für Mediengestaltung und -theorie. Leiter der grafik.werkstatt der HS Offenburg. Studium der Klassischen Philologie und Kunstwissenschaft, Germanistik und Kulturanthropologie an der Goethe-Universität, Frankfurt a.M. Promotion bei Prof. Dr. phil. Otfried Schütz zum Thema Gestalten als Form der Erkenntnis (2014). Langjährige, selbständige Agenturtätigkeit, Autor von Fachbüchern, Fachartikeln und Lehrmaterial zu Digital-, Grafik- und Webdesign und Gestaltungsunterricht mit analogen wie digitalen Techniken.

Heute: Mitglied der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e.V. (vdw e.V.); Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. (bildung-wissen.eu), Initiator und Gründungsmitglied des Forum für Humane Bildung (aufwach-s-en.de); Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zum Thema Digitalisierung (Projekt futur iii: Digitaltechnik zwischen Freiheitsversprechen und Totalüberwachung, futur-iii.de)