Teaching per Web und App: Freiheit ist gut, Kontrolle ist besser

Prozesse des Lehrens und Lernens zu digitalisieren ist kein Fortschritt, sondern die Wiedereinführung von Drill und Kontrolle, diesmal durch Algorithmen und das Arbeiten an Display und Touchscreen.

Wer ein beeindruckendes Beispiel von Digitalpropaganda für eLearning sucht, wird bei zwei Protagonisten des Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) fündig. Unter dem Titel „Humboldt gegen Orwell“ rufen Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt in der ZEIT vom 24.9.2015 erneut die Revolution an Schulen und Hochschulen aus. Die Digitalisierung verändere „die Bildung“ so stark wie zuvor nur Buchdruck und Schulpflicht. Online-Medien stellten Lehren und Lernen komplett auf den Kopf. Statt exklusiver Angebote für die westliche Welt entstünden globale Massenprodukte. Statt striktem Lehrplan würden individuelle Angebote und Förderung zur Norm. (Dass Massenprodukte und Norm nicht mit Individualität und Bildung korrespondieren – sei es drum.) Statt Lehrer/innen und Erzieher/innen einzustellen sollten Schulen WLAN bekommen, die Lehrerkollegien zu Weiterbildung und Einsatz von Digitaltechnik im Unterricht verpflichtet werden. Dieser digitale Tsunami zerstöre das Humboldtsche Bildungsideal keineswegs, im Gegenteil. Er demokratisiere das Lernen. Jede(r) könne sich nach eigener Façon bilden. Algorithmen und Big Data würden den Bildungserfolg automatisiert und personalisiert sichern. Zugleich ließe sich die (lästige) Bildungshoheit der Länder überwinden und bundes- oder besser gleich weltweit deutsche Online-Ingenieurstudiengänge etablieren.

Die von Dräger schon vor zwei Jahren propagierten Massive Open Online Courses (MOOCs) werden dafür ebenso reaktiviert wie das angeblich „individuelle Lernen“. Dabei egalisiert Software mehr als dass sie individualisiert (es ist egal, wer vor dem Rechner sitzt). Selbst die sinnfreie Quantifizierung von Teilnehmerzahlen als Qualitätsmerkmal wird repetiert. Ob 16 oder 160 Tsd. Teilnehmer: über Qualität oder Niveau eines Online-Kurses sagen die Zahlen nichts aus. Aber wenn davon 23 Tsd. (weniger als 15%) ein Zertifikat erwerben, ist das schon ein Erfolg? An Präsenzhochschulen gelten Abbrecherquoten von mehr als 20% als inakzeptabel.

Das Versprechen „Bildung für alle und Chancengleichheit durch Online-Kurse“ ist Propaganda. Bei Studiengebühren zwischen 9 Tsd. Dollar/Jahr an öffentlichen und bis zu 40 Tsd. Dollar/Jahr an privaten Universitäten in den USA sind Online-Kurse zwar ein kostengünstigeres, nicht aber gleichwertiges Angebot. Die soziale Deklassierung der Online-Absolventen bzw. ihrer Abschlüsse wird bereits mit dem Zertifikat besiegelt. Online-Kurse ersetzen kein Präsenzstudium. Der MIT-Chef Rafael Reif, an sich ein Befürworter digitaler Lehrangebote, deklariert z.B. drei Formen von Wissen: das Lernen von bestehendem Wissen (durch Lektüre oder andere Lehrmedien), das Verbessern von bestehendem Wissen durch Dialog und Diskurs und die Anwendung des Wissens in der Praxis. Digitales Lernen könne nur für den ersten Teil, die Selbstlernphase, genutzt werden. Das entspricht gängiger Lehrpraxis. Man gibt im Vorfeld Literaturlisten und Skripten aus, damit sich Schüler oder Studierende einlesen und sich aktiv im Unterricht beteiligen können. Ohne die folgenden Präsenzphasen bleibt es bestenfalls angelesenes (repetitives) Wissen.

Online-Kurse sind für die automatisiert abprüfbare Repetition konzipiert. Verständnisfragen sind für Algorithmen zu komplex. Das führt beinahe zwangsläufig zu Lern-Bulimie: Teaching to the Test, um Zertifikate zu bekommen. Solche Prozesse kann man programmieren und digitalisieren, Online-Prüfungen effizient und automatisiert korrigieren. Nur ist das weder Schule noch Studium, sondern ein dystopisches Lernkontrollszenario.

Big Brother is teaching you

Gleichwohl idealisieren Dräger und Müller-Eiselt derlei Szenarien als zukunftsweisend. In riesigen Räumen säßen über 90 Schülerinnen und Schüler, jede(r) an seiner/ihrer Lernstation und arbeiteten ein individuelles Programm ab. Jeder Tag in dieser Lernfabrik ende mit einem verbindlichen Online-Test. Über Nacht würden für jede(n) die neuen Lernpläne berechnet. Morgens stünden alle Schülerinnen und Schüler vor großen Monitoren (stramm) und bekämen ihr neues Tagespensum zugeteilt. Das erinnert an Militärdienst und Strafkompanie, nicht an Schule. Lehrer/innen sind, wie üblich in digitalen Szenarien, nur mehr Lernbegleiter und Sozialcoaches. Software hingegen liefert die Lehrinhalte. Eine weitere Software bestimmt die zu belegenden Kurse, berechnet den wahrscheinlichen Studienerfolg und prognostiziert die zu erwartende Note. Selbst Zeugnisse gäbe es, weil irrelevant, nicht mehr. Statt Bewerbungsunterlagen und Vorstellungsgesprächen würden Computerspiele eingesetzt. Binnen 20 Minuten ließen sich passende Bewerber/innen für einen Job ermitteln. Und das Beste: Das alles seien nur Ausschnitte der zu erwartenden Revolution.

Absurd war gestern, heute ist digital

Zwei Dinge kann man aus dem Text lernen. Zum einen wird man zum Bildungsexperten in Deutschland nicht durch Studium oder Berufspraxis, sondern per Akklamation durch eine Stiftung und Wiederholung in der Presse. Weder Dräger noch Müller-Eiselt verfügen über pädagogische oder fachdidaktische Expertise noch haben sie Lehrerfahrung. Das benötigt man offensichtlich nicht, wenn man Agenda-Setting für Bildungsmanagement durch Digitaltechnik betreibt.

Zum anderen ist das, was Dräger und Müller-Eiselt propagieren, nicht zukunftsweisend oder revolutionär, sondern rückwärtsgewandt und reaktionär. Das isolierte Lernen an Display und Touchscreen ist Frontalunterricht par excellence, nur dass jetzt ein Algorithmus bestimmt, was der/die Einzelne zu tun hat. Die Auswahl der Lehrinhalte durch Software ist ebenso intransparent wie die automatisch generierten Lern- und Persönlichkeitsprofile. Erzogen werden autoritätshörige Menschen, die sich von Algorithmen und Avataren kontrollieren und steuern lassen. Die Vereinzelung des Individuums ist eine bekannte Strategie des Neoliberalismus zur Entsolidarisierung. Aus einem an sich sozialen und kooperativen Wesen Mensch (Tomasello) werden so egozentrierte Selbstoptimierer. Digitaltechnik wird dabei nicht nur zum Synonym für Überwachung, Kontrolle und Steuerung des Einzelnen, sondern zum Instrument der Gegenaufklärung. Je früher man Kinder auf das isolierte Lernen am Rechner konditioniert – Kinder ab sechs Jahren (David Gelernter) – desto einfacher werden Display und Avatar als leitende Erziehungsinstanz verinnerlicht. Der digital entmündigte Mensch wartet am Display auf Anweisung. Das mag ein Geschäftsfeld sein. Für Bildungseinrichtungen, die zukünftige, mündige Bürger erziehen sollen, ist das kein geeignetes Konzept. Lehr- und Lernprozesse basieren auf Beziehung, gegenseitigem Respekt und Vertrauen: lauter Aspekte, die auch durch forciertes Agenda-Setting nicht zu digitalisieren sind.