Kinder lernen auch ohne IT

Ralf Lankau sprach in Neckartenzlingen über die Schule der Zukunft und den Einsatz digitaler Medien; Beitrag von Helmuth Kern, Nürtinger Zeitung vom 19. April 2016, S. 19

Foto: Helmuth Kern
Ersetzt die Virtual Reality-Brille die Lehrer? (Foto: Helmuth Kern)

Ein klares Plädoyer für eine Schule mit einer ganzheitlichen, menschenbezogenen Bildung als Ziel hielt Prof. Dr. Ralf Lankau von der Offenburger Hochschule für Technik, Wissenschaft und Medien am letzten Freitag in der Aula der Werkrealschule in Neckartenzlingen. Veranstalter war die Ortsgruppe Infomobilfunk Neckartenzlingen und Umgebung. Vom Lernen in der Schule handelte der Vortrag und wodurch es verhindert werden kann. Am Ende war klar: Verhinderer ist ein von Digitaltechnik dominierter Unterricht.

Der Vortrag, im Rahmen von Lankaus Projekt „futur iii – digitaltechnik zwischen freiheitsversprechen und totalüberwachung“, machte deutlich, dass Schule auf einen mündigen, demokratiefähigen, freien Menschen ausgerichtet sein muss, der nicht zum Humankapital eines Wirtschaftssystems wird, in dem Softwareprogramme über Chancen in Schule, Beruf und Leben bestimmen in einer Gesellschaft, in der alles digital ist. Höre man auf Mark Zuckerberg, Gründer von Facebook, dessen erstes Zukunftsprojekt das E-Learning sei, dann sähen Facebook-Schulklassen so aus: „Jede(r) hat eine Brille auf, einen Knopf im Ohr, sitzt am Rechner bzw. unter der Haube – und lernt.“ Dieser Bildungsvorstellung liege das Bild eines vollständig planbaren, messbaren und mechanischen Lernens zugrunde; Software steuert und bestimmt Lehrplan, Lernprozesse, Prüfungen und Ausbildungschancen, Algorithmen und Sprachsysteme formen die Lernenden zu einem „Werkstück“.

Zentrale Frage für Lankau ist, wie Schule der Zukunft aussehen soll: Scheinbare „Individualerziehung“ durch Softwaresysteme, in der Menschen „gemäß ihrer Leistungsfähigkeit als Humankapital kategorisiert werden“, oder: Bildung der „Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler in der Auseinandersetzung mit Fachinhalten und im Diskurs mit anderen Menschen (Lehrer/innen, Mitschüler/innen, Eltern).“ Zugespitzt: Vereinzelung und Zurichtung am Rechner oder aktives Lernen als dynamischer Prozess im Klassen- oder Sozialverband. Digitalisierung verhindert offene, für das Lernen förderliche Situationen im Miteinander, da Antworten einprogrammiert und vorgegeben sind. Nicht die Medien – ob digital oder nicht – sind das Problem, deren Einsatz im Unterricht ist durchaus sinnvoll. Wenn jedoch in den digitalen Zukunftszenarien Software Inhalt, Ziele von Unterricht und die zu entwickelnden Lebenskompetenzen steuere, brauche es keine Lehrer mehr; in autonomen Lehr- und Lernsystemen werden Erwachsene zu „Sozialcouches“ (Lankau).

Diese Bildungsvorstellung wird von der Idee einer durch Technik, durch Software verbesserten, neu zu programmierenden Welt getragen. Es bleibt der total entmündigte Mensch, der erwartet, dass der Computer sagt, was er tun soll. Dass damit der Wille zum eigenständigen Denken und Handeln unterbunden wird, liegt auf der Hand. Mit „Was kann IT in der Schule eigentlich besser? – Es gibt nichts“ und „Haben Sie Mut – Kinder lernen auch ohne IT“ oder der „Bildschirm ist Frontalunterricht pur!“ machte Lankau deutlich, wohin die Reise geht: in eine programmierte Lernlandschaft mit empathietauglicher Software – ohne menschliches Gegenüber. Maschinen unterrichten Menschen.

Ein weiteres Problem ist fehlender Datenschutz in den Schulen, der verhindert, dass netzbasiertes Lernen zu Datensammelstellen für Netzmonopolisten und Konsumindustrie wird. Für Anbieter von Hard- und Software ist Digitaltechnik für Schulen von hohem ökonomischem Wert. Gigantische Summen von über 5 Milliarden Euro pro Jahr kommen dann für die Erstausstattung mit IT bei den mehr als 33.000 Schulen in Deutschland zusammen. Dazu die Kosten für ein flächendeckendes W-LAN-Netz mit mehreren hundert Millionen Euro/Jahr. Die letzteren trüge die Öffentliche Hand. Die Hardware sollte, des schnellen Veraltens wegen, von Eltern beschafft werden. Die Lehrinhalte, von privaten Produktentwicklern, Bildungsstiftungen und Investoren lizensiert, würden als Abomaterial zur Verfügung gestellt werden.

Ein weiteres: die soziale Selektion durch Digitaltechnik. In Internaten wie Salem ist die Zeit zur Nutzung der privaten Smartphones streng limitiert. Das stehe im direkten Gegensatz zu öffentlichen Einrichtungen, wo Kinder und pubertierende Jugendliche offensichtlich gar nicht früh genug an digitale Geräte gewöhnt werden können. Lankau zeigte abschließend eine breite Palette von Möglichkeiten auf, was jetzt zu tun ist: Schulen vom Internet, Aufbau eines Bildungsservers, KITA und Grundschulen IT-frei, didaktisch sinnvolle Einführung und Auseinandersetzung ab Sekundarstufe I mit open-source-Software und dem notwendigen Erkenntnisziel, dass ein Computer nur ein Werkzeug ist; dazu Konsequenzen für Lehrerbildung und die Notwendigkeit eines Etats für Technikfolgeabschätzung.

Mit einem Zitat von Marie Ebner-Eschenbach endete der eineinhalbstündige Vortrag: „Glückliche Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit“.
In der anschließenden Aussprache wurde deutlich, dass es Lankau gelungen war, Nachdenklichkeit anzuregen. Mit einer klaren Antwort auf die Frage, was nun zu tun sei, setzte der Referent auf die Initiative aller am Bildungsgeschehen Beteiligten: Widerständig sein aus besserem Wissen heraus, denn Lernen in der Schule gelingt nicht, wenn digitale Technik Schüler entmündigt und neoliberales Denken die Bildung bestimmt.