Dot.Com-Bildungsphantasien

oder: Der bildungspolitische Offenbarungseid  als Versionsnummer

In der Onlinekampagne „NRW 4.0“ versieht die Landesregierung Nordrhein-Westfalen auch den Begriff Bildung mit dieser Versionsnummer und verbindet damit zugleich das Versprechen des „selbstbestimmten und selbstorganisierten Lernens“. Man darf sich wundern. Wer Bildung in Dot.Com-Manier hochzählt und in Analogie zu „Industrie 4.0“ benennt, hat das Prinzip von Automatisierungstechnik nicht verstanden oder zu wenig über Lehr- und Lernprozessen des Menschen reflektiert – oder beides.

Das Kürzel 4.0 ist ein Terminus technicus aus der Hightech-Strategie (HTS) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Ziel ist die sogenannte „intelligente“( d.h. die vollautomatische, sich selbst steuernde Fabrik (Smart Factory). In den Umsetzungsempfehlungen des Ministeriums steht: „Das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 zielt darauf ab, die deutsche Industrie in die Lage zu versetzen, für die Zukunft der Produktion gerüstet zu sein. Sie ist gekennzeichnet durch eine starke Individualisierung der Produkte unter den Bedingungen einer hoch flexibilisierten (Großserien-) Produktion.“

Wer diese Terminologie auf Bildungseinrichtungen und ihre Beteiligten überträgt, argumentiert rein technisch und inhuman. Der Mensch als autonom Handelnder wird in Automatisierungsszenarien obsolet. Die „stark individualisierten Produkte“ wären Schüler/innen, Auszubildende oder Studierende, die in „hoch flexibilisierten (Großserien-)Produktionen“ entsprechend der Anforderung der Besteller (die potentiellen Arbeitgeber) passgenau für den Arbeitsmarkt „hergestellt“ würden.

Die Lernfabrik: Unterricht per Algorithmus und Avatar

In zunehmend vollautomatischen Lernfabriken würde das „Werkstück Mensch“, von der Kita über alle Schulstufen bis zur Weiterbildung algorithmisch gesteuert von Lernstation zu Lernstation geführt. Von Software berechnete Lerneinheiten samt begleitender Übungen vermitteln die gewünschten Lerninhalte und werden umgehend abgeprüft. Jeder Lernschritt wird protokolliert und dient als Grundlage sowohl der nächsten Lerneinheiten wie des individuellen Lernprofils. Algorithmen bestimmen aufgrund der stetig gemessenen Leistungsfähigkeit und Lerngeschwindigkeit, anhand von Fehlerquoten, Frustationstoleranz und anderer Parameter der Probanden die maximal zu erreichenden Lernziele. Software prüft automatisch und regelmäßig, ob die angestrebten Kompetenzstufen erreicht werden und bestimmt aufgrund der Lernleistung und des Lernfortschritts die Berufswahl ebenso wie ggf. das Studienfach, falls aufgrund der bisherigen Leistungen ein erfolgreicher Studienabschluss prognostiziert würde.

Erreicht ein Proband das maximal mögliche Kompetenzniveau, wird dieses evaluierte „Humankapital“ mit definierten Kompetenzen und exakt validiertem Leistungsprofil dem Arbeitsmarkt zugeführt. Bei Bedarf wird per eLearning und Onlinekursen nachgeschult, falls zusätzliche Kompetenzen gefordert würden. Diese vollautomatischen Lernfabriken optimieren sich aufgrund der erhobenen Daten ständig selbst und könnten so jede neue Generation der „Werkstücke“ (dito: Menschen) effizienter „produzieren“.Wer historisch gebildet ist, kennt diese Konzepte vom „programmierten Lernen“ der Behavioristen aus den 1950er Jahren. Sie sind schon damals gescheitert.

Was wie eine absurde Dystopie klingt, ist der Kerngedanke des digital gesteuerten, „selbstorganisierten“ Lernens, wobei Selbstorganisation nur ständige Selbstvermessung und Steuerung durch Algorithmen bedeutet. Der oder die Einzelne arbeitet am Rechner eine vorgegebene Folge von Übungen ab. Personalisiertes Lernen heißt lediglich, dass für die Probanden aufgrund ihrer bisherigen Lernleistungen aus einem Gesamtangebot passende Lerneinheiten selektiert und so „individuelle Lernpfade“ berechnet werden. Der eine lernt schnell, der andere braucht mehr Übungen bis das vorgegebene Ziel abprüfbar erreicht ist (oder die Ziele werden an die Lernleistung angepasst, was zu völlig inhomogenen Wissensständen innerhalb von Klassen führt).

Ziel der Digitalisierung von Unterricht ist letztlich der Ersatz der Lehrenden durch Lehrmedien bzw. Technik. Lehrpersönlichkeiten werden zu Lernbegleitern und Sozialcoaches degradiert. De-Humanisierung und Entpersonalisierung sind ebenso intendiert wie die Ent-Solidarisierung der Lernenden durch die Isolation an separierten Lernstationen. Anglizismen (eLearning, Mobile Learning, Social Blended Learning u.a.) scheinen ebenso Pflicht wie Technikgläubigkeit oder das Ausblenden von Fragen des Datenschutzes. (Nach dem Safe Harbour-Beschluss des EU-Gerichtshofes müssten z.B. alle deutschen Schulen vom Netz genommen werden, bis ein sicherer Datenaustausch nach europäischer Norm technisch geregelt ist. Allein: Es fehlt ein Kläger.)

Cui bono? Erziehung zur Technik-Hörigkeit

Wer hat den Nutzen, wenn Lehren und Lernen de-humanisiert und durch Digitaltechnik automatisiert und steuerbar gemacht werden soll – und funktioniert das überhaupt? Gleich drei globale Megatrends, in die es zu investieren gelte, nennt Bertelsmann auf seiner Website: Bildung, Gesundheit und Digitalisierung. In Bildung und Gesundheit will auch Marc Zuckerberg die Facebook-Dollar seiner neuen (steuersparenden) Stiftung investieren. Man scheint sich über zukünftige Geschäftsfelder einig.  Gesundheit und Bildung seien die beiden Systeme, die aktuell auf der Agenda der Digitalisten stünden, so die Ökonomin Shoshanna Zuboff, verbunden mit der Bitte an alle Bürger, sie mögen Sand im Getriebe dieser Entwicklung sein.

Aber nutzt Digitaltechnik im Unterricht überhaupt? Nein, lautet jedenfalls die Antwort einiger Befürworter von Digitaltechnik. Laut OECD-Studie (PISA-Sonderauswertung „Students, Computers and Learning“) ist trotz hoher Investitionen in IT in Schulen kein Nutzen nachweisbar. „Staaten, die in den letzten Jahren verstärkt in die Ausstattung der Schulen investiert haben, [konnten] in den vergangenen zehn Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erzielen.“ (Als Befürworter plädieren sie trotzdem für mehr Technik, Geräte und neue Konzepte.)

Der Chef des Massachusetts Institut of Technology (MIT), Rafael Reif, ein Vorreiter digitaler Lehrangebote, benennt in einem Interview die Grenzen des Lernens mit digitalen Medien. „Die Ausbildung bei uns besteht aus drei Komponenten. Erstens: das Lernen von bestehendem Wissen. Zweitens: das Verbessern von bestehendem Wissen. Drittens: die Anwendung des Wissens, um etwas Neues zu schaffen. Den letzten Punkt nennt man Innovation. Digitales Lernen können wir nur für den ersten Teil nutzen. Aber wir gewinnen damit mehr Zeit für die beiden anderen Komponenten.“ Lehrmedien, heißt das, können in Selbstlernphasen genutzt werden. Ohne die anschließenden Präsenzphasen mit Diskurs und Anwendung bleibt es angelesenes, repetitives Wissen. Das ist Konsens und heißt wahlweise Blended Learning oder aktuell „inverted classroom“. Es bedeutet: Wer sich auf den Unterricht vorbereitet, kann dem Unterricht oder der Vorlesung besser folgen. Aber Präsenzphasen gehören zwingend dazu. Das wundert nicht. Kein Mensch lernt digital. Es gibt auch keinen digitalen Unterricht, da Unterricht notwendig an Lehrende und Lernende, interpersonale Kommunikation und Beziehung gebunden ist. Digitalisier- und medialisierbar sind immer nur Lehr- und Lerninhalte, keine Lernprozesse. Lernen ist immer ein individueller und ein sozialer, dialogischer Prozess. Zu sprechen ist daher korrekt von digitalen Medien im Unterricht, nicht von „digitalem Lernen“.

Zugleich muss man bei netzbasierten Lehr- und Lernmedien immer den Rückkanal bedenken. Jeder Seitenaufruf, jeder Mausklick wird gespeichert und ausgewertet. Digitale Plattformen dienen primär dem Erstellen von exakten und personalisierten Profilen. Daten sind schließlich der „Rohstoff des 21. Jahrhunderts“. Ermöglicht wird durch Big Data Mining sowohl die leistungsfixierte wie die psychometrische Vermessung des Menschen. Das Individuum wird zum Datensatz über Persönlichkeit und Leistungsfähigkeit. Das ist der Wesenskern der Digitalisierung der Lehr- und Lernmedien und Distribution übers Netz: die möglichst vollständige Vermessung jedes und jeder Einzelnen und das möglichst umfassende Abschöpfen dieser Daten.

Das kann für pädagogische Einrichtung kein Ziel sein. In einem Text von Konfuzius fragt der Kaiser einen Weisen, was er als erstes täte, würde er regieren. Die Antwort lautete: Die Begriffe richtig stellen. Denn „wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande.“ Beginnen wir damit, die Begriffe (Lernen, Medien, Bildung usw.) richtig zu stellen statt sie in Analogie zu Techniken in Versionsnummern zu fassen und so den bildungspolitischen Offenbarungseid zu leisten.

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