Kleines Glossar der sog. „digitalen“ Bildung

Begriffe, die Sie kennen sollten, wenn Sie sich mit Informationstechnologie in Schulen und dem Lernen mit Maschinen beschäftigen.

Begriffe, die Sie kennen sollten, wenn Sie sich mit Informationstechnologie in Schulen und dem Lernen mit Maschinen beschäftigen.

AFECTIVE COMPUTING: Vermessen der Emotionen (Psychometrie). Alles, was jemand am Rechner macht und wie er/sie auf akustische/visuelle Anzeigen des Rechnersystems reagiert, wird mit Kamera, Mikrofon und z. T. weiteren Sensoren aufgezeichnet und ausgewertet. Neben den Eingaben per Maus, Tastatur und Touchscreen lassen sich Stimme und Stimmmodulation, Augenbewegungen, Puls oder Hautwiderstand messen. Daraus werden Rückschlüsse auf Emotionen und Verhaltensparameter abgeleitet (Aufmerksamkeit, Ausdauer, Konzentrationsfähigkeit, Stressresistenz, Frustrationstoleranz u. ä.). Affective Computing ist eine Basis für Learning Analytics neben → persuasiven Technologien.

BYOD (Bring Your Own Device): Kinder bringen ihre privaten Geräte mit in den Unterricht. Aus datenschutzrechtlichen wie pädagogischen Gründen ist das bedenklich: Lehrkräfte haben keinen Zugriff auf private Geräte, das Ablenkungspotential ist durch private Daten, Dienste und Spiele extrem hoch. Pädagogisch: Ungerechtigkeit durch unterschiedlich leistungsfähige Geräte, Auflösung des Klassenverbands und Sozialneid wegen Geräten und deren Preisen.

CLICKWORKER: Selbständige, die pro Mausklick bezahlt werden. Eine derzeit wichtige Aufgabe ist die Kontrolle und Korrektur der automatisierten Mustererkennung der → sog. „Künstlichen Intelligenz“ (sKI) bei der Sprach- oder Gesichtserkennung. Clickworker helfen, Systeme der Mustererkennung zu optimieren. Der Bedarf steigt mit dem Einsatz von sKI-Systemen. Der Marktplatz für Clickworker bei Amazon heißt „Mechanical Turk“ (mechanischer Türke). Das ist eine Anspielung auf die erste „schachspielende Maschine“ des 18. Jh.: ein Apparat in Form eines Menschen in türkischer Kleidung und einer Mechanik zum Bewegen von Schachfiguren. Im Inneren saß allerdings: ein kleinwüchsiger Schachspieler.

CLOUD COMPUTING: Alle Daten werden in der „Wolke“ (cloud) gespeichert. Rückkehr zu zentralisierten Systemen der Datenhaltung. Nach zentralen Hauptrechnern vor Ort (Mainframe) und der Verteilung der Rechenkapazitäten auf Einzelrechner (Personal Computer, PC, ab ca. 1980) werden Rechenleistung und Datenhaltung wieder in Server-Farmen (zentralisierten Rechenzentren) zusammengefasst. Bei Mainframe-Konzepten standen die Server vor Ort (in house), beim Cloud Computing werden Daten und Software extern gespeichert. Man greift auf eigene Daten über das Netz zu. Vorteil: Man muss sich nicht um Technik, Datensicherung etc. kümmern, die „outgesourct“ sind. Nachteil: Eigene Daten liegen irgendwo in Datensilos (Begriff von Peter Ganten, deutscher IT-Unternehmer, für externe Datenspeicher) und man kann nur über das Netz darauf zugreifen. Was Cloudbetreiber mit Daten machen, ist nicht kontrollierbar. Und: Bei technischen Problemen hat man keinen Zugriff auf eigene Daten.

DARK PATTERNS (im Sinn von verdeckten, unsichtbaren Mustern) ist ein Sammelbegriff für graphische und/oder funktionale Elemente auf Websites und in Smartphone-Apps, die Menschen un- und unterbewusst dazu bringen, Dinge in Onlinediensten oder sozialen Netzwerken zu tun, die sie gar nicht tun wollen oder die sogar den eigenen Interessen und Wünschen zuwiderlaufen, sogar mit negativen Konsequenzen (etwa Folgekosten) verbunden sein können. Dabei werden gezielt menschliche Verhaltens- oder Wahrnehmungsmuster ausgenutzt, wie man es aus der Werbepsychologie kennt.

„Während die Beeinflussung im Sinne einer von Kunden gewünschten (Kauf-)Aktivität bzw. Verhaltensänderungdurch Überzeugung – wie etwa das Beenden gesundheitsgefährdender bzw. die Initiierung gesundheitsfördernder Aktivitäten (z. B. mithilfe von Gesundheits-Apps) – zumeist transparent erfolgt (und auch positiv konnotiert sein kann), werden Dark Patterns üblicherweise verschleiert. Vergleichbar ist dieser Ansatz in etwa mit Social Bots, die ebenfalls bewusst getarnt werden und vortäuschen, echte (menschliche) Nutzer zu sein, um eine Wahrnehmungs- und ggf. Verhaltensänderung herbeizuführen.“ (Bogenstahl, 2019)

DATENGESTÜTZTE SCHULENTWICKLUNG: Begriff für den Glauben an die (Ver)Messbarkeit und Steuerbarkeit von Bildungseinrichtungen gemäß der Ideen aus der Betriebswirtschaftslehre. In Verbindung mit der Ökonomisierung des Sozialen (Arbeit, Bildung, Gesundheit) werden Messsysteme und Kennzahlen eingeführt. Dahinter stehen Theorien und Modelle der produzierenden Konsumgüterindustrie, die glauben (machen) wollen, man könne Lernprozesse wie Produktionsprozesse steuern (Quality Management, QM). Für Schulen bedeutet es, dass von jedem Schüler und jeder Schülerin möglichst viele persönliche Daten benötigt werden. (Steffen Mau: Das metrische Wir, 2018)

EMPIRISCHE BILDUNGSFORSCHUNG: Vermessung und Verdatung von Lern- und Entwicklungsprozessen. Das Ziel sind möglichst viele Daten, anhand derer Methoden und „Rezepte“ für Lernsettings und möglichst automatisiert abprüfbare Lernleistungen entwickelt werden können. Nicht das Individuum, seine Entwicklung oder das Verstehen von Sachverhalten sind von Interesse, sondern Quantifizierbarkeit, Statistik und Verallgemeinerbarkeit.

KOMPETENZORIENTIERUNG (KO): Reduktion der Fachinhalte auf automatisiert Prüfbares. Fachinhalte werden, ohne Rücksicht auf Fachlogik oder Zusammenhänge, so in Module und kleine Einheiten zerlegt, dass sie in Kompetenzraster und -stufen angeordnet und in digitalen Lernumgebungen automatisiert abgeprüft werden können. Die KO ist die inhaltliche Voraussetzung für digitale Beschulungssysteme. Die → empirische Bildungsforschung liefert Theorie und Modell und → Learning Analytics die Messtechnik.

KUENSTLICHE INTELLIGENZ (KI): Die sog. „Künstliche Intelligenz“ (sKI) ist ein Synonym für Automatisierungstechnik (konkret: automatisierte Datenverarbeitung). Große Datenmengen werden mit mathematischen Methoden ausgewertet (Algorithmen für Mustererkennung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung). Hintergrund: Alles, was sich mathematisch beschreiben lässt, d.h. regelbasiert ist, kann in Rechenoperationen (Algorithmen) übersetzt werden. sKI ist komplexe Mathematik für komplexe Systeme, keine Intelligenz. Intelligenz lässt sich formal nicht definieren, nur Teilbereiche wie emotionale, soziale oder technische Intelligenz lassen sich benennen. sKI ist leistungsfähig, aber begrenzt auf (vor)strukturierte Aufgaben. Douglas R. Hofstaetter nennt es „Simulation von Intelligenz“. Sabine Bendiek, Microsoft-Chefin in Deutschland: „Eine KI kann viele Dinge ganz toll, aber letztlich rechnet sie auf Basis von großen Datenmengen.“

LEARNING ANALYTICS: Auswertung des Verhaltens von Menschen, die mit eLearning-Programmen oder mobilen Geräten (mobile devices) arbeiten. Der Oberbegriff ist „Big Data Analyzing“ oder neu „Data Sciences“, da „Big Data“ nach „Big Brother“ klingt,. Aufgezeichnet und ausgewertet werden sowohl Lernverhalten wie psychometrische Faktoren (Ausdauer, Konzentrationsfähig­keit, Stressresistenz, Frustrationstoleranz). Ausgewertet werden neben Lerndaten weitere Merkmale der Lernenden: Interessen, Vorwissen, akademische Leistungen, Ergebnisse standardi­sierter Tests, Kompetenzniveau, soziodemografische Daten. Aus dem sozialen Umfeld werden Daten zum persönlichen Netzwerk, Inter­aktionen und Präferenzen hinsichtlich sozialer Medien ergänzt. Auch externe Daten und aktuelle Geschehnisse, Ortsangaben, Emotionen und die Motivation fließen in die Datensätze ein. (Ifenthaler, D.; Schumacher, C. (2016): Learning Analytics im Hochschulkontext. WiSt Heft 4. April 2016. S. 179)

MACHINE LEARNING: Maschinen können nicht lernen. Maschinen wie Rechner werden von Steuerungssystemen (mechanisch oder per Software) gesteuert. Gemeint ist, dass Computersysteme aufgrund der regelbasierten Struktur scheinautonom (d.h. ohne weitere Einflussnahme von Menschen) ihre zugrundeliegenden Regeln modifizieren und/oder ändern können. Im Idealfall werden Automatisierungsprozesse besser; in der Realität müssen → Clickworker die Ergebnisse bestätigen. In der Praxis diskriminieren Algorithmen schon heute Personengruppen aufgrund von Merkmalen wie Ethnizität, Wohnort u. ä. (O‘Neil: Angriff der Algorithmen).

PERSONALISIERTES LERNEN: Prototypisches Beispiel für Agenda-Setting (neudt.: Framing), um Begriffe gemäß eigener Doktrin umzudeuten. Lernen ist immer und notwendig individuell, d.h. an die jeweilige Person gebunden. Wer etwas kennen, können oder wissen will, muss es selbst lernen. Personalisiert heißt nur, dass diese Lernprozesse per Rückkanal digital aufgezeichnet und algorithmisch ausgewertet werden, um Lerner/innen automatisiert zu steuern. → Learning Analytics.

PERSUASIVE TECHNOLOGIEN: Begriff für Techniken und Methoden, die das Verhalten von Menschen ändern (sollen). Auf Basis psychologischer Studien und mit Methoden der psychologischen Kriegsführung (neutralisierend „Psychological Operations“ (PSYOP) genannt, die zusammen mit Medienkampagnen (Media Operations MEDIAOPS) eingesetzt werden, soll gewünschtes Verhalten erzeugt werden.

SoL: Offiziell: Selbstorganisiertes Lernen. Kinder bestimmen selbst, was sie lernen wollen. Die Schulwoche beginnt damit, dass sie sich selbst einen Wochenplan erstellen, den sie dann unter der Woche abarbeiten. Inoffiziell: „Schule ohne Lehrer“ wie bei „Facebooks Summit Learning“ oder den (mittlerweile geschlossenen) Steve-Jobs-Schulen: Eltern kaufen ihren Kindern Laptops, mit denen sie dann alleine in der Schule lernen (müssen). Der „ganze Rest“ (Lehrinhalte, Unterricht per Software, Online-Prüfungen) wird per → Cloud Computing und → Learning Analytics abgewickelt.

VERMESSEN STATT UNTERRICHTEN: Konsequenz der → datengestützten Schulentwicklung; Grundprinzip der → empirischen Bildungsforschung, die kennzahlenorientiert auf das fokussiert, was sich messen und statistisch erfassen lässt.


Anmerkung:

Verkäufer*/Innen digitaler Technologien definieren die hier glossierten Begriffe selbstredend anders. Sie als Leserin oder Leser sind intelligent genug, um mehr als eine Begriffsdefinition resp. damit verbundene Positionen zu reflektieren. Aber wir müssen Begriffe und ihre Definitionen zurückerobern und wieder selbst definieren. Eigenständiges (autonomes) Denkens beginnt mit der korrekten Benutzung von Begriffen.

Leseempfehlung:

  • Ulrich Bröckling; Susanne Krasmann (Hrsg., 2004): Glossar der Gegenwart
  • Agnieszka Dzierzbicka; Alfred Schirlbauer (Hrsg.; 2008): Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Zertifizierung