Buchbesprechung zu Christoph Keese: Silicon Valley, München, 2014
Wer als Journalist oder Wissenschaftler heute über technischen Fortschritt und die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft recherchiert, kommt am Silicon Valley nicht vorbei. Zwar herrscht dort seit mehr als vierzig Jahren „rasender Stillstand“, weil alle technischen Innovationen zwischen 1900 und den 1930er bis 1960er-Jahren stammen und seither letztlich „nur“ Geschwindigkeit und Speicherkapazitäten vervielfacht wurden. Aber es ist gelungen, Digitaltechnik quasi als Nervensystem der industrialisierten Welt zu etablieren.
Keese hatte die Gelegenheit, ein halbes Jahr dieses „Nervenzentrum“ vor Ort zu studieren und hat nun aufgrund seiner Recherchen und Interviews erhebliche Nervenschmerzen. In einem Dreischritt(Das Tal, Die Kultur, Die Folgen) beschreibt Keese seine Beobachtungen und was seine Gesprächspartner berichten. Vieles steht in krassem Gegensatz zu dem, was im Web publiziert wird. So ist z.B. Präsenz vor Ort Bedingung, um Geld für StartUps einzuwerben (S. 37), obwohl doch im „globalen Dorf“ alle Menschen und Ideen gleich sein sollten . Es geht auch nicht um sinnvolle Ideen, sondern eher um das als „disruption“ bezeichnete Vorgehen, bestehende Geschäftsmodelle zu zerstören, um selbst Nutzen daraus zu ziehen. So entsteht nichts Neues, sondern nur digital abgebildetes.
Akademisches und wissenschaftliches Denken ist selbst an der Universität Stanford nachgeordnet. Studierende werden regelrecht aufgefordert, ihr Studium abzubrechen, um ein Unternehmen zu gründen (von denen 99-Komma-X-Prozent scheitern, aber die Professoren sind an den erfolgreichen Unternehmen beteiligt, S. 54f.)
Die Economy des Silicon Valley sorgt zugleich für die extremste Variante der sozialen Spaltung. Milliardäre und Hungerlöhner teilen sich zwar ein Tal, doch nur erstere können darin frei agieren (S. 77f.), während die anderen nicht mal mehr die Mieten zahlen können. Nur: Diese Milliardäre mit ihren Digitaldollars (es sind Börsenwerte ohne realen Gegenwert) wollen „die ganze Welt für alle Menschen per Code verbessern“ – und maßen sich an, selbst außerhalb von Recht und Gesetz zu stehen. Beispiel Google:
Was Google heute plant, ist ein Indiz für eine Zukunft, in der das Netz unser Leben und unsere Gesellschaft immer weiter durchdringt. Es entsteht ein Staat außerhalb des Staats, eine supranationale Institution, die sich der Kontrolle legitimer Volksvertretungen entzieht und das tut, was sie selbst für richtig hält. Tragischerweise geschieht das im umso dramatischerem Maße, je freier die Gesellschaft ist, die das Internet trägt.“ (S. 226f.)
Zwischen Sklaverei und Wahnsinn
Für Arbeitnehmer entwickelt sich eine neue Form von Lohnsklaverei. Jede und jeder konkurriert mit allen anderen, die ihre Dienstleistungen im Netz anbieten. Wer als digitaler Tagelöhner auch nur einen prekären und befristeten Job bekommen will, muss die anderen Clickworker unterbieten.
Nach wie vor bleibt es ein gutes Gefühl, seine Arbeit gut zu machen. Doch der wirtschaftliche Hauptgewinn fällt nicht mehr dem zu, der eine Leistung erbringt, sondern dem, der sie vermittelt. (S. 171)
Menschliche Arbeit wird immer billiger, bevor sie Rechner ganz übernehmen. Aus der viel gepriesenen Share-Economy des Teilens wird eine Slave-Economy. Das gilt natürlich nur für das lohnabhängige Prekariat. Die Denker und Leader arbeiten derzeit (wieder einmal) an ihrer Unsterblichkeit, diesmal in der Variante des Transfers des eigenen Bewusstseins ins Netz. Der Begriff dazu ist Singularity, der Vorreiter heißt Ray Kurzweil. Wieder einmal versuchen ein paar Menschen, Gott zu spielen, diesmal mit Hilfe von Software und Code. Der Wahn ist so alt wie die menschliche Illusion, den Tod überwinden zu können. Einen der frühen Vordenker und heutigen Kritiker des Internet, Jaron Lanier zitiert Keese dazu wie folgt:
Die Gotteslehren der Cyber-Theoretiker haben mit einigen der grausamsten Ideologien der Geschichte gemeinsam, dass sie eine geschichtliche Vorbestimmung ausrufen und alles, was sich ihr in den Weg stellt, für Häresie halten, die es zu bekämpfen gilt.
So geht es Kapitel um Kapitel hinab in die Abgründe der digitalen Diktatur, wie sie im Silicon Valley entwickelt wird. Wer nicht das Hohelied der Digitalisten aus dem Valley singt, wird ausgegrenzt und diffamiert. Das ist IS-Ideologie auf computer-nerdisch.
Summa summarum: Dieses Buch ist all denen dringend zur Lektüre empfohlen, die digitaleuphorisch die Zukunft in digitalen Techniken und Diensten (App und Web) sehen. Sie bekommen stattdessen eine asoziale Konkurrenzgesellschaft gezeigt, in der ein paar technisch begabte Asperger-Nerds und ein Haufen wenig bis minderbegabter Normal-Nerds die Welt mit Software-Code und Apps „verbessern“ (und selbst mit möglichst wenig Aufwand reich werden) wollen. Schon vor normalen „Weltverbesserern“ sollte man sich in acht nehmen. In der Variante von jungen Männern an Displays, Touchscreenss und Spiele-Konsolen gilt die Warnung in besonderem Maße.