Freilandversuch an Schülern

Interview mit Hochschulprofessor Ralf Lankau: Warum der Digitalpakt ein Freilandversuch an Schülern ist, Mittelbadische Presse, 25. Oktober 2019, von Jens Sikeler

Die Ortenauer Schulen profitieren mit rund 20 Millionen Euro von den Mitteln des Digitalpakts. Ralf Lankau, Kunstpädagoge und Professor für Mediengestaltung an der Hochschule Offenburg, bezweifelt im Interview mit der Mittelbadischen Presse, ob das Geld tatsächlich gut angelegt ist. Er hält das für einen Freilandversuch an den Kindern und sogar für gefährlich.

Link zur Mittelbadischen Presse: Freilandversuch an Schülern

Das Interview

Mittelbadische Presse: 20 Millionen Euro sollen aus dem Digitalpakt des Bundes in die Ortenau fließen. Können die Schulen jetzt einkaufen gehen? 

Ralf Lankau: Das hängt davon ab, was auf der Einkaufsliste steht. Endgeräte kommen in der Prioritätenliste erst ganz am Schluss. Das Geld wird bereitgestellt für den Aufbau der technischen Infrastruktur. Viele Milliarden werden bundesweit also an Telekommunikationsanbieter wie die Telekom fließen. Server und Router für den Aufbau von WLAN-Netzen müssen ebenfalls angeschafft werden. Erst dann kommen Endgeräte wie Tablets oder PCs. Bevor die allerdings angeschafft werden, müssen die Schulen erst mal Mediennutzungspläne vorlegen.

Sind die Schulen da nicht arg spät dran? WLAN gehört in Privathaushalten ja schon viele Jahre zur Standardausstattung. 

Lankau: Der Grad der Ausstattung hängt ganz stark vom Standort der Schule ab. In größeren Städten ist das meist kein Thema mehr. Auf dem Land müssen die Schulen dagegen erst mal in die Infrastruktur investieren. Generell liegt Baden-Württemberg bei der Ausstattung im Mittelfeld. Vernünftigerweise war hier der Anschluss ans Netz aber auch nicht erste Priorität. Die Schulen brauchen erst mal andere Dinge.

An was denken Sie? 

Lankau: Was an den Schulen wirklich fehlt ist Personal, also qualifizierte Lehrkräfte, Mentoren, Schulpsychologen und Sozialarbeiter und nicht etwa die technische Infrastruktur. Die Technik ist ein Hilfsmittel für Lehrer, alleine nützt sie aber überhaupt nichts.

Sind denn die Lehrer überhaupt ausreichend geschult im Umgang mit digitalen Medien? 

Lankau: Lehramtsstudierende setzten sich in der Tat noch nicht flächendeckend mit diesem Thema auseinander. Wobei man da differenzieren muss. Mathematiker oder Naturwissenschaftler haben aufgrund ihres Faches eine höhere Affinität zu digitalen Geräten. Während Geisteswissenschaftler oder Musikpädagogen – ich selbst bin Kunstpädagoge – erst einmal für die Nutzung gar keine Notwendigkeit haben, weil sie ganz andere Dinge vermitteln wollen.

Was spielt denn für den Unterrichtserfolg eine größere Rolle, der Lehrer oder Technik?

Lankau: Wenn Sie eine qualifizierte Lehrpersönlichkeit haben, die gut mit Menschen umgehen kann, ist es  nachgeordnet, ob er die Mathematik an der Tafel erklärt, am White Board oder über einen Laptop erklärt. Viel wichtiger sind die Fragen: Wie qualifiziert ist ein Lehrer fachlich? Wie qualifiziert ist er pädagogisch im Umgang mit jungen Menschen? Ist er in der Lage, eine lernoffene Situation zu schaffen?

Gibt es denn überhaupt Vorteile der Nutzung von modernen Medien? 

Lankau: Ab der achten oder neunten Klasse sind die digitalen Techniken natürlich sehr gut geeignet, um mit der Medienproduktion zu beginnen. Bei qualifiziertem Informatikunterricht ist der Nutzen ebenfalls keine Frage. Es gibt aber auch negative Effekte. Darauf weisen erste Studien hin. Es ist jetzt schon empirisch belegt, dass Lesenlernen am Tablet deutlich schlechter funktioniert als das Lesenlernen mit dem Buch oder Übungsblättern.

Also ist die Verwendung digitaler Medien eher schädlich? 

Lankau: Ja, vor allem zu früher Einatz von Bildschirmmedien. Das gilt auch für den Mathematikunterricht. Das Addieren von Zahlen etwa funktioniert in den frühen Klassen auf dem Papier besser. Wichtig ist auch, dass das an der Tafel steht und dort auch stehen bleibt. Auf dem Tablet wischen die Schüler nämlich alles weg und verlieren dann den Überblick.

Müssen die Kinder überhaupt noch an den Umgang mit digitalen Medien herangeführt werden oder ist dieses Denken mittlerweile überholt? 

Lankau: In der ersten Phase ging es in den Schulen tatsächlich darum, alle Menschen, also auch die sozial Benachteiligten, an diese Geräte heranzuführen, damit sie damit vertraut werden. Mittlerweile liegt die Ausstattung der Über-Zehnjährigen mit Smartphones und Ähnlichem aber bei nahezu 100 Prozent. Den Umgang damit kennen die schon. Heute ist es die große Aufgabe der Schule, die Kinder von digitalen Medien fernzuhalten und Alternativen anzubieten. Selbst Steve Jobs, der verstorbene Apple-Gründer, hat gesagt: „Das ist Unterhaltungselektronik für Erwachsene. Aber bitte nicht für Kinder.“

Wo genau liegt das Problem? 

Lankau: Der Umgang mit den Apps, dieses ganze Wischen und Tippen korrumpiert das Belohnungsverhalten, weil man sofort eine Bestätigung bekommt. Die Frage, die wir uns als Pädagogen stellen müssen, ist, ob es tatsächlich Lernprogramme gibt, die das Lernen fördern. Das ist bislang aber noch nicht belegt.

Wenn die Schüler nicht profitieren, wer profitiert dann?

Lankau: Sie müssen nur schauen, wer sich jetzt als Dienstleister anbietet. Da stoßen Sie schnell auf Apple Education, Google Classroom, MicrosoftEducation und Facebook Summit Learning. Es sind, neben immer neuen Beratungsagenturen, die ganz großen Firmen, die hier ihre Geschäftsfelder sehen.

Was bedeutet das genau? 

Lankau: Es geht um die Automatisierung des Lernens. Sie müssen dazu den gesamten Lernprozess aufzeichnen, und zwar nicht nur die Ergebnisse etwa eines Mathematiktests. Mit Kamera und Mikrofon werden psychometrische Daten aufgezeichnet und von den Programmen ausgewertet. Da wird die Stimme aufgezeichnet, wann jemand unruhig wird, oder das Gesicht ausgewertet, wann jemand Stress hat. Das ist ein Freilandversuch mit Kindern, um die Systeme zu verbessern, die dann flächendeckend eingesetzt werden, und dieser Freilandversuch mit Kindern, der heißt bei uns Digitalpakt Schule.

Was müsste die Politik anders machen? 

Lankau: Der aktuelle Prozess ist für mich eine aus Berlin gesteuerte Zwangsdigitalisierung. Man müsste diesen Prozess komplett umdrehen und die Schulen entscheiden lassen, wofür sie das Geld benötigen. Um zu verstehen, was da vor sich geht, müssen Sie zwei Begriffe kennen. Das eine ist der Begriff Global Education Industries (GEI). Das sind weltweit agierende Konzerne, die Lehrangebote für die Schulen und Hochschulen anbieten wollen. Das zweite ist Learning Analytics, das heißt das Vermessen von Lernverhalten. Das ist die Grundlage, um  Lernprogramme zu optimieren und dann Menschen automatisiert zu beschulen. Darum geht es nämlich.

Was raten Sie den Schulen in der Ortenau, wenn sie dieses Problem minimieren wollen? 

Lankau: Das wäre eigentlich ganz einfach, wird aber nicht von Erfolg gekrönt sein, weil es im Kultusministerium andere Prioritäten gibt. Alle Schulen müssen ja nicht nur die Fortbildung für die Lehrer konzipieren, sondern auch Medienentwicklungspläne schreiben. Und in diese Medienentwicklungspläne könnte man ja reinschreiben, mit welchen Medien die Schulen arbeiten wollen. Dabei könnte es sich um Theaterausstattung  oder Musikinstrumente handeln. Außerdem sollte man über die Eltern- und Lehrerverbände juristisch klären lassen, ob diese Zweckbindung an Digitaltechnik überhaupt zulässig ist, oder ob es nicht darum geht, die Schulen mit Lehrmitteln auszustatten.

Was müsste sich in der Schulpolitik grundsätzlich ändern? 

Lankau: Aus meiner Sicht müssen wir unseren Blickwinkel auf soziale Einrichtungen wie Schulen und Bildungseinrichtungen ändern: Es sind keine Produktionsbetriebe. Wir laufen im Moment einer Theorie nach, die von Gary Becker u.a. Anfang der Siebziger postuliert wurde, die Humankapitaltheorie. Aber wir produzieren kein Humankapital. Diese Denke steckt hinter den Automatisierungstendenzen. Unser Ziel als Pädagoge muss es sein, junge Menschen zu freien und selbstständigen Persönlichkeiten zu machen. Und das geht nicht, indem wir sie an Bildschirme setzen und von Software steuern lassen, sondern indem wir Freiräume schaffen und als Pädagogen, Eltern, Erzieher reale Ansprechpartner sind. Bildung funktioniert immer nur über Beziehung, und da müssen wir wieder hinkommen.

Zur Person

Ralf Lankau

Ralf Lankau, 58, ist Grafiker, Philologe und promovierter Kunstpädagoge. Seit 2002 lehrt er als Professor für Digitaldesign und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. Lankau publiziert zu Mediengestaltung, Digitaltechnik und (Medien-) Pädagogik auf der Website futur-iii.de und setzt sich seit Jahren kritisch mit dem Einsatz digitaler Techniken im Bildungswesen auseinander.