Nils B. Schulz: Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik
Rezension von Dr. Burkard Chwalek, Bingen
Nils B. Schulz (S.), promovierter Germanist und Lehrer für Deutsch und Philosophie an einem Berliner Gymnasium, seit vielen Jahren publizistisch insbesondere zu bildungspolitischen Fragen tätig, hat ein mutiges Buch geschrieben. Mutig v. a. deshalb, weil sein Verfasser zentrale Fragen des gegenwärtigen bildungspolitischen Diskurses gegen die herrschende Tendenz aufnimmt und aspektreich (und schon das ist angesichts so mancher Engführungen gegen den Strich gebürstet) diskutiert. Hierzu zählen in seiner Darstellung die machtvoll vorangetriebene Digitalisierung, der Digital Turn, die Rolle des Change Managements bei der Umsteuerung des Schul- bzw. Bildungswesens unter neoliberalen Vorzeichen, die Umdefinition der Lehrkräfte zu Lernbegleitern oder Coaches, die zunehmenden Einflussnahmen der EdTechindustrie auf die Schulen, die Kompetenzierung von Unterricht und computergestützte Standardisierung der Leistungsüberprüfungen oft in der Form von Massentests, die fortschreitende Niveauabsenkung – um nur einiges zu nennen.
Mutig ist ein solches Buch aber auch deshalb, weil es im aktuellen Diskussionsklima sich von vornherein dem Verdacht der Fortschrittsverweigerung und Rückwärtsgewandtheit ausgesetzt sieht und mit einer freundlichen Aufnahme in weiten Kreisen nicht unbedingt rechnen darf, eher schon mit ablehnender Haltung, aus der heraus Kritik häufig als Innovationsbremse diskreditiert, aber nicht in ihrer emanzipatorischen Kraft wahrgenommen wird. Zudem erwecke dezidiert vorgetragene, klar konturierte Positionierung in die vorfindlichen Verhältnisse destabiliserender Absicht leicht den Eindruck der Hybris, mit der von der Warte höherer Einsicht aus auf die Situation (herab)geblickt werde. Auch lasse sich nie ganz der Dialektik von Aufwertung des In-Frage-Gestellten entkommen, indem man es ernst nimmt, der Auseinandersetzung für wert erachtet. Nicht zuletzt sehen sich kritische Einlassungen der Gefahr ungerechtfertigter Vereinnahmug und politischer Instrumentalisierung ausgesetzt durch Gruppierungen, mit denen ihr Verfasser nichts gemein hat.
Ungeachtet dessen oder gerade deswegen muss man für das schmale Buch eine uneingeschränkte Empfehlung aussprechen, wie etwas ausführlicher begründet werden soll.
S. ist ein in besonderem Maße geeigneter Kritiker der dominanten Kompetenz- und Digitalisierungsagenda, weil er philosophische Belesenheit und theoretische Erschließungskraft mit langjähriger praktischer Erfahrung in der Schule verbindet, was ihn von zahlreichen Stimmen unterscheidet und vor ihnen in der Tat auszeichnet, sofern man in aus Praxis gewonnenen Einsichten ein Qualitätsmerkmal zu erblicken vermag.
Für sein Vorhaben hat er die Form des Essays gewählt, was zu einer bisweilen losen, nicht streng didaktisierten Gedankenfolge, gerade dadurch aber zu flüssiger Lesbarkeit führt, die die Lektüre bei allem Anspruch zu einem Vergnügen macht.
Adressiert ist der Essay explizit „nicht nur an Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch an Studierende und Eltern, die an Fragen des Digital Turn im Bildungssystem interessiert sind.“ (11) Darüber hinaus wünscht man sich für seine Lektüre auch die in der Bildungspolitik und den Bildungsverwaltungen Tätigen. Reflexive Distanz zum eigenen Tun ist immer ein Gewinn.
Seine Bestandsaufname der derzeitigen bildungspolitischen Debatten und Implementierung ihrer Zielvorgaben wie auch Perspektiven aus deren Verengungen entfaltet S. in fünf Kapiteln.
Das erste Kapitel formuliert ausgehend von der anschaulichen Szenerie eines alten Fotos, das die Bedeutung des Zeigens für Vermittlungsprozesse ansichtig macht, die zentrale These, „dass junge Menschen in schulischen Lernsituationen Sachthemen am besten von älteren Menschen lernen – und zwar in leiblicher Präsenz.“ (19) Solche Formen des Unterrichtens, die auf dem „analogen“, persönlichen, situativen Miteinander von Unterrichtenden und Schülerinnen und Schülern aufruht, werden – so die Analyse – durch vielfältige Entwicklungen unterlaufen. Diskutiert werden u. a. das Misstrauen gegen Lehrkräfte, das sich in immer neuen Formen der Kontrolle zur Geltung bringt (dazu auch Kapitel 5), die Umformung der Lehrkräfte zu Coaches, die ihren Einfluss in Lern- und Bildungsprozessen zunehmend in den Hintergrund rückt, allerlei Arten von Schein- bzw. Halbpartizipation (S. spricht von „Simulakrum“, „einer simulierten schulischen Welt“, 22, „Teilhabesimulakren“, 28), Psychotechniken des Change Managements, das die Schulen erobert hat, die in technizistische Terminologie gekleidete Kompetenzierung und die mit ihr einhergehende Fragmentierung des Lernens – alles, überdies von zahlreichen Widersprüchen gekennzeichnete, Entwicklungen, die das Entstehen einer gemeinsamen Welt (Hannah Arendt) und authentischer Bildungsprozesse unterlaufen.
Den kaum zu bestreitenden Anteil der Digitalisierung der Schulen an dieser Entfremdung beleuchtet S. in mehreren Dimensionen; ein Schwerpunkt liegt auf der Problematik der Reduktion unmittelbarer, leiblicher Erfahrung.
Das zweite Kapitel stellt in meinen Augen das Glanzstück des Buches dar. Scharfsinnig und mit geschultem analytischen Blick des Philologen und Hermeneutikers untersucht S. die Sprache der Positionspapiere zur Digitalsierungsstrategie vorrangig der Kultusministerkonferenz und der ins Leben gerufenen Ständigen wissenschaftlichen Kommission (SWK).
Er charakterisiert diese als Kitsch, kitschig (z. B. 42), wenn man darunter die Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Ausdrücke und Bilder versteht. Nahezu inhaltsleere Termini und Phrasen in überbordendem Nominalstil überführten Reste erziehungswissenschaftlicher Begrifflichkeit in ein technizistisches Sprachuniversum, das sich im Verein mit dem imperativischen Duktus gegen Einsprüche abschotte und Alternativlosigkeit suggeriere. Der blanke Widerspruch zur Verheißung von Individualisierung, Selbstbestimmung, Emanzipation und dgl. scheint nicht einmal mehr aufzufallen. In Anlehnung an Adorno (Erziehung zur Mündigkeit) wird der Verdinglichungscharakter der kalten Sprache der Digitalität akzentuiert. Man spürt die Nähe der Argumentation zur Kritischen Theorie.
Das dritte Kapitel thematisiert mögliche und tatsächliche Abwehrmechanismen im Spannungsfeld von Selbstbehauptung und Top-down-Durchsetzungsstrategien und Konfliktlinien im Digitalisierungsprozess und der Umsteuerung des Bildungssystems auch im Kontext des stärker werdenden Einfluss von EdTechunternehmen und Lobbyisten („bildungsindustrielles Netzwerk“, 75), deren Werbestrategien sich kaum von der Sprache der Bildungspolitik unterscheide.
Das vierte Kapitel ist den „Paradoxien der Digitalisierung“ (85) gewidmet und gibt Hinweise zur Entwicklung von Anwendungskompetenzen hin zur Medienmündigkeit (mit Berufung auf Paula Bleckmann). Mit bestechender Klarheit präpariert S. die inhärenten Widersprüche heraus, wenn man ein kritisch-reflexives Verhältnis zu Digitalisierungsprozessen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler durch Kompetenzierung anbahnen oder gar erreichen will. Auch werden viel zu vernachlässigte Themen wie Gesundheits-, Natur- und Umwelt- und Datenschutz thematisiert. S. leitet daraus die Forderung nach einem Fach „Medientheorie“ ab (während er gegenüber einem verpflichtenden Fach Informatik für alle gegenüber zurückhaltend ist), für das er selbst bemerkenswerte Impulse gegeben hat. Instruktiv sind die Einblicke in seine eigene unterrichtliche Erprobung an seiner Schule.
Das fünfte Kapitel zeigt Perspektiven aus der brüchig gewordenen Verfugung und Dominanz von neoliberalen Steuerungsphantasien, Kompetenzierung, Standardisierung und mit Unterstützung vieler EdTechkonzerne forcierter Digitalisierung. Während bislang die kritische Perspektive im Vordergrund stand, rückt nun der zweite Begriff des Titels, Verantwortung, in den Fokus. Es ist ein engagiertes Eintreten – weg von der Funktion des Classroom Managers – für die Lehrerpersönlichkeit, die Verantwortung trägt zuvörderst für die anvertrauten jungen Menschen, aber auch die Inhalte und die die aktuellen bildungspolitischen Prozesse in bester aufklärerischer Tradition (Kant) mit reflexiver Distanz begleitet und die Rolle einer Lehrkraft einnimmt, die sich ihrer Bedeutung für ihre Lernwirksamkeit, wie sie z. B. Hattie eindrucksvoll empirisch belegt hat, bewusst ist und sie gegebenenfalls auch antikonformistisch ausfüllt. Die Formel dafür lautet: neo-existenzialistische Pädagogik. Sie verbindet das Wahrnehmen und Fördern der Person als Ganzes in ihrem Werden mit den Erkenntnissen der „didaktisch-methodische[n] Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung“ (131).
Die Tonlage des Essays vorzüglich treffend, ist S. über die kritische Bestandsaufnahme hinaus ein kenntnisreiches Plädoyer für eine Bildung gelungen, die sich ihres humanen Anspruchs verpflichtet sieht. Dazu wünscht man ihm nicht nur zahlreiche Leserinnen und Leser bei (zukünftigen) Lehrkräften und Eltern, sondern auch in der Bildungspolitik und den Bildungsadministrationen mit Offenheit auch gegenüber Gedanken, die sich den gegenwärtigen Hauptströmungen als sperrig erweisen.
Der Beitrag als PDF: Nils B Schulz Kritik und Verantwortung