Paraphrase der Antwort Kants unter der Prämisse der Digitalisierung
Kant: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Aufklärung ist die Aufforderung, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Digitaltechnik ist die Option, Verantwortung an Apps, Algorithmen und anonyme Cloud-Dienste zu delegieren. Digitaltechnik ist derzeit das bevorzugte Instrument der Gegenaufklärung, um Menschen zu entmündigen.
Kant: Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Unmündigkeit ist ebenso der fehlende Wille, sich seines Verstandes bedienen zu wollen und Verantwortung für das eigenen Tun zu übernehmen. Vorsätzliche Unmündigkeit äußert sich in der Fixierung auf und den Glauben an Technik und Quantifizierbarkeit als Regulativ selbst für soziale Prozesse und Organismen (Kybernetik). Das Vordringen der Digitaltechnik in nahezu alle Lebensbereiche und die Delegation der Verantwortung an Software ist der wissentliche und willentliche Eintritt des Menschen in die selbstverschuldete Unmündigkeit als Abhängigkeit von technischen Systemen.
Kant: Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit ebenso, wenn mangelnde Entschließung aus Bequemlichkeit, Faulheit oder Feigheit geschieht.
Kant: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist bis heute der Wahlspruch der Aufklärung, um die Gegenaufklärung in die Schranken zu weisen. Zu den Gegenaufklärern gehören Kybernetiker, Technokraten und Digitalisten, deren Ziel es ist, Menschen mitsamt ihrer Sozialsysteme durch digitale Anwendungen fremdzubestimmen und fremdzusteuern.
Kant: Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes; von Natur aus mündig), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.
Faulheit und Feigheit sind weiterhin die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie durch die geschichtliche Entwicklung heute in den sozialen und demokratischen Systemen selbstverantwortlich (politisch mündig ) handeln könnten, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben und sich von (heute digitalen) Medien und Propagandatechniken bevormunden lassen; und warum es anderen so leicht wird, sich zu ihren Vormündern aufzuwerfen. Es ist bequem, unmündig zu bleiben.
Kant: Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.
Habe ich eine passende App, die mir sagt, was ich noch für die Schule oder Uni lernen und welche Übungen ich dazu lösen muss, welche eBooks ich lesen oder welche Videos ich schauen soll, ob ich mich heute schon genug bewegt habe oder noch Sport treiben muss, was mein Puls und mein Blutzucker machen, brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Für mich bemüht sich die passende App, die mir, dank meiner personalisierten Daten in der Cloud, immer das Richtige empfehlen und vorschlagen wird.
Kant: Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.
Ich habe nicht nötig, zu reflektieren oder zu entscheiden, was ich tue oder lasse; Algorithmen werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass ich dabei nicht nur pekuniär, sondern mit persönlichen Daten bezahle, ist Bedingung für die vollständige, fürsorgliche Bevormundung. Wer das Beste für mich berechnen will, benötigt alle meine Daten. Die digitale Nanny braucht selbstverständlich möglichst exakte Persönlichkeitsprofile, Lernprofile, Leistungsprofile. Durch die ergänzende, permanente Vermessung des eigene Körpers (Stichworte sind Selftracking bzw. Quantifed Self) werden immer exaktere Datenprofile jedes Einzelnen gespeichert und anhand vergleichbarer Muster validiert. Selbst die Psyche lässt sich durch die Auswertung des Kommunikationsverhaltens, der Bewegungsmuster und des Konsums, was alles über Kunden- und Kreditkarten transparent wird, zunehmend präziser vermessen. Das Ich wird zum evaluierten Datensatz.
Diese Vermessung der Menschen dient nicht der Individualisierung, sondern der Nivellierung des Individuellen. „Empfehlungen“ sind das Mittel zur Standardisierung von (Konsum-)Verhalten, ethischen Maßstäben, Meinungen und Weltbildern. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass es durch Internet und Web, mit Hilfe von mobilen Geräten und Apps gelungen ist, das bislang effizienteste Instrument der Gleichschaltung und gleichzeitigen, nahezu vollständigen Überwachung von extrem vielen Menschen in demokratischen (d.h. nicht reglementierenden, nicht repressiven) Staaten zu etablieren. Die „Freiheit des Internet“ ist nurmehr die Wahlfreiheit zwischen Anpassung oder Ausgrenzung und Stigmatisierung, wie es Deleuze als Wandel von Disziplinar- zu Kontrollgesellschaften beschreibt.
Kant: Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.
Diese Vormünder sind heute keine Menschen, sondern Algorithmen, die den wachsenden Datenbestand von Big Data zur Mustererkennung und -generierung nutzen. Daraus werden in Folge Vorgaben („Empfehlungen“) für zu normierende Nutzer generiert, wobei Auswahl (Selektion) und Reihenfolge der Ergebnisse (Ranking) darüber entscheiden, was überhaupt zur Kenntnis genommen werden kann. (Suchmaschinen wie z.B. Google selektierten und sortieren nach intransparenten Kriterien, weshalb sie für das wissenschaftliche Arbeit ungeeignet sind.)
Kant: Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen.
Die Strategie der Digitalisten scheint konträr: Sie machen ihr Hausvieh (die User) dumm, in dem sie ihnen vermeintliche Kompetenz zusprechen. Doch die „technische Kompetenz“ der von John Perry Barlow euphorisch „digital natives“ Genannten beschränkt sich auf das Bedienen von Software-Interfaces. Die „digital na-ives“ (ohne „t“) sind fit im Eintippen und Preisgeben privater, auch intimer Daten. Nur erweisen sie sich dadurch als perfekte „Prosumer“ (dt. Prosumenten), wie sie Alvin Toffler in „The Third Wave“ 1980 beschreibt. Es sind sich aktiv selbstoptimierende Konsumenten. Das technische Verständnis hingegen schwindet, denn für alles gibt es Templates (Vorlagen), Tools und Apps. Sogar Computerviren (Malware) kann man zusammen klicken, ohne etwas von Programmierung zu verstehen. So werden selbst Aggression und Subversion, wenn man das Hacken von Systemen so nennen will, konsumentenfreundlich standardisiert.
Kant: Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.
Und heute? Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter? Die Antwort lautet wieder: Nein, wir leben vielmehr in einem Zeitalter der Post- oder Gegenaufklärung, wie es Horkheimer und Adorno im Kapitel „Die Kulturindustrie“ in der „Dialektik der Aufklärung“ (Erstausgabe 1944) beschrieben haben. Reichweite, Geschwindigkeit und Penetranz der Vormünder haben sich durch digitale und mobile Geräte und Techniken vervielfacht. Die Mechanismen der Einflussnahmen und Manipulation sind hingegen ebenso gleichgeblieben wie elemtare menschliche Verhaltensweisen, etwa die Bereitschaft, sich aus Bequemlichkeit, Feigheit und Faulheit den Geräten und Medien auszuliefern. Immerhin: Hoffnung gibt es ebenfalls bereits bei Kant:
Kant: Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks, (wodurch dies der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.
Diesen Keim, für den die Natur des Menschen am zärtlichsten sorgt, den Hang und Beruf zum freien Denken zu entwickeln, ist die gleichlautende Aufgabe der Aufklärung im 21. Jahrhundert: als humanistische und demokratische Gegenbewegungen gegen die Versuche der vollständigen Quantifizierung und Programmierung des Menschen. Aufklärung im Zeitalter der Digitalisierung ist das sich Besinnen auf das Humane, Private und Individuelle als Grundlage von Demokratie und Sozialstaat. Aufklärung und Eigenverantwortung sind Prämissen des Einzelnen, nicht des Kollektivs, der Monopole oder der Algorithmen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines analogen (!) Verstandes zu bedienen!
Offenburg in Baden, den 14. Mai 2015, 231 Jahre nach dem Original von Kant, 1784
P.S. Einen Text von immanuel Kant zu paraphrasieren ist anmaßend. Kant hätte, als Aufklärer, aber mehr Respekt vor dem Scheitern als vor der Feigheit, es nicht wenigstens zu versuchen.
Das Original als PDF: Immanuel Kant: Was heißt Aufklärung?