Wer wissen will, welche Folgen ökonomie- und technikfixierte Bildungsstrategien haben, findet Antwort im neuen Buch von Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt (beide CHE). Die beschriebenen Szenarien zeigen exemplarisch das posthumanistische Potential der Digitalisierung am Beispiel (Hoch-)Schule und Unterricht – das EU-Präsident Martin Schulz als technologischen Totalitarismus geißelt.
Es scheint zu einem Ritual zu werden: Im Herbst werden Bildungsrevolutionen ausgerufen, wahlweise als Folge oder Zukunftsperspektive der Digitalisierung. So forderte Richard David Precht Im September 2012: „ Andere Lehrer, andere Methoden und ein ganz anderes Zusammenleben in der Schule. Eine Revolution muss her, auf die Barrikaden!“. Im Oktober 2013 war es das Arbeitspapier 174 des CHE: „Die digitale (r)evolution? Chancen und Risiken der Digitalisierung akademischer Lehre“, begleitet von Drägers Euphorie über Massive Open Online Courses (MOOC). Dieses Jahr heißt das Buch “Die digitale Bildungsrevolution“. Die Autoren: Dräger und Müller-Eiselt, der als Projektleiter für die Bertelsmann-Stiftung die Chancen der „Digitalisierung der Bildung“ vorantreiben soll.
„Revolutionär“ ist als Begriff deutlich zu hoch gegriffen. Die Szenarien und Bildungs-Versprechen der letzten Jahre werden im neuen Buch ebenso wiederholt wie die Begeisterung für vollautomatisierte und digitalisierte Lernszenarien. Gelernt wird am Display oder Touchscreen, die Lernsoftware kommt übers Netz. Schülerinnen und Schüler wandern von Lernstation zu Lernstation und lösen dort die von einem Algorithmus für sie „individuell“ berechneten Aufgaben. Jeden Abend gibt es einen verbindlichen Online-Test, aus dem ein Rechner über Nacht die Aufgaben für den Folgetag bestimmt. Kinder und Jugendlichen beginnen ihren Arbeitstag in diesen Lernfabriken damit, morgens auf einen großen Bildschirm zu starren, der das Lernpensum anzeigt, das sie anschließend „selbstbestimmt“ an ihren Lernstationen abarbeiten dürfen. Lehrerinnen und Lehrer sind, wie üblich in derlei Szenarien, obsolet und werden zu Lernbegleitern und Sozialcoaches degradiert.
Dass Algorithmen individualisieren könnten, ist neu. Gemeint ist wohl eher egalisieren (es ist egal, wer Software bedient). Aufgrund festgelegter Bedingungen (if/then) und erreichter Punkte werden weitere Aufgaben gestellt oder das nächste Level freigeschaltet. Das ist normiertes Lernen in vorgegebenen Lernschritten, bei ausschließlichem Frontalunterricht am Bildschirm. Wer sein Pensum an Lernvideos und Begleitübungen absolviert, ausreichend Punkte gesammelt und einen Abschluss gemacht hat, dem rechnet eine andere Software aus, welcher Studiengang für ihn oder sie geeignet ist. Software stellt ein Curriculum (Kurse und Übungen) zusammen, das vermutlich erfolgreich bestanden wird, samt prognostizierter Abschlussnote. Selbst Bewerbungen und Einstellungsgespräche werden obsolet. Nach 20 Minuten Computerspiel weiß der potentielle Arbeitgeber anhand des Verhaltens im Spiel, welche(r) Kandidat/in geeignet sei.
Big Data und Big Brother als Teaching Team
Das der vermeintlichen Revolution zugrunde liegende Verständnis von Lehren und Lernen ist rein technisch. Adaptiert werden Parameter der Produktions- und Steuerungstechnik aus der industriellen Produktion. Der Dreiklang aus Automatisierung, Digitalisierung und Kontrolle, den Shoshanna Zuboff als Ziel aller Digitalisierung benennt, wird auf das System Bildung (Online und Mobile Learning) übertragen. Begriffe wie Digital- oder eLearning, Online- oder Mobile Learning beschreiben dabei immer technische Infrastrukturen und Medien, keine Lernprozesse. Kein Mensch lernt digital.
Der begriffliche Paradigmenwechsel ist Programm. Es werden technische Systeme benannt, an denen der Mensch zugerichtet werden soll. „Ein Schüler erhält täglich einen auf ihn persönlich zugeschnittenen Lernplan, den ein Rechenzentrum am New Yorker Broadway über Nacht erstellt.“ Der Satz aus der Verlagsankündigung beschreibt kein Lernumfeld, sondern ein dystopisches, algorithmisch determiniertes Lernkontrollszenario. Via Software wird nicht Verständnis abgefragt, es werden vorgegebene Lösungsmuster eingeübt. Assoziative oder intuitive Lösungen sowie eigenständige Ideen z.B. sind nicht digital abbildbar und entfallen daher zwangsläufig. Gegenstand digitaler Lehrmedien kann dabei prinzipiell nur sein, was per Software automatisiert abgeprüft werden kann. Automatisierung und Digitalisierung reduzieren die Wissensvermittlung auf klassische Repetition. Das hieß früher: Pauken – oder Drill.
Der Chef der amerikanischen Elite-Universität Massachusetts Institut of Technology (MIT), Rafael Reif, an sich ein Befürworter digitaler Lehrangebote, benennt dementsprechend die Grenzen des Lernens mit digitalen Medien. Es gäbe drei Formen von Wissen: das Lernen von bestehendem Wissen (durch Lektüre oder andere Lehrmedien vermittelbar), das Verbessern von bestehendem Wissen durch Dialog und Diskurs sowie die Anwendung in der Praxis. Digitales Lernen könne nur für den ersten Teil genutzt werden. Das ist weitgehend Konsens, die Folge heißt, als Anglizismus, „Blended Learning“. Je nach Alter, Fach und Situation werden analoge und/oder digitale Medien vorbereitend, begleitend oder ergänzend zur Präsenzlehre eingesetzt. Das ist nicht re-, allenfalls evolutionär. Kein Pädagoge aber käme auf die Idee, vollautomatisierte Lernfabriken zu entwickeln, in denen der digital entmündigte Mensch allmorgendlich auf Anweisung von Maschinen wartet, was zu tun sei.
Reality Check
Wer es einer Software überantwortet, für Studierende die optimalen Fächer (inklusive voraussichtlicher Abschlussnote) zu berechnen, hat von Aufbau und Sinn eines Curriculums oder Studiums ebenso wenig verstanden wie von der besonderen Qualität des Studierens als persönlicher Entwicklungsphase. Curricula werden aufgrund der jeweiligen Fachlogik und fachimmanenter Inhalte konzipiert, nicht anhand zu erwartender Prüfungsnoten. Ein Studienverlaufsplan ist keine Playlist mit freier Wahlmöglichkeit. Studieren bedeutet nicht Repetition von Fachwissen – ob mit Lehrbuch, Lehrvideo oder Seminar erarbeitet – , sondern vermittelt, logisch und strukturiert denken zu lernen, Fakten oder Ergebnisse selbst zu bewerten und Entscheidungen treffen zu können. Lernsoftware hingegen gewöhnt daran, dass Algorithmen entscheiden, was richtig und falsch ist und was als nächstes zu tun sei.
Wer behauptet, digitale Lehrangebote würden die Demokratisierung der Bildung befördern und die digitale Spaltung aufheben, argumentiert wissentlich an der Realität vorbei. Zum einen genügt die Existenz von (Lehr-)Medien und Infrastruktur nicht für Bildungsprozesse. Sonst hätten Angebote wie Stadtbibliotheken, Funk- oder Tele-Kolleg deutlichere Bildungserfolge zeitigen müssen. Schüler wie Studierende haben i.d.R. kostenlos Zugang zu Bibliotheken. Beinahe alle Haushalte haben wenigstens ein Fernsehgerät. Und die Folgen? Eine Bildungsrevolution? Eher nicht. Bei Erwachsenen nutzen diejenigen Lehrmedien, die bereits eine Berufsausbildung oder ein Studium absolviert haben und sich selbständig, aus eigener Motivation heraus weiterbilden. (Wir bilden uns immer selbst, während wir ausgebildet werden.) Kindern aus bildungsfernen Schichten fehlen die Vorbilder für (Weiter-)Bildungsprozesse, auch wenn Fernsehen wie digitale Endgeräte flächendeckend präsent sind.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer vorgebildet ist und/oder aus einem bildungsaffinen Umfeld kommt, kann sich aus eigenem Interesse und Antrieb mit analogen wie digitalen Medien weiterbilden. Wem diese Vorbildung und das soziale Umfeld fehlt, scheitert auch bei digitalen Angeboten. Daher fehlt es nicht an Technik, wohl aber an Unterrichtenden.
In der Arbeitswelt, heißt es, wird es künftig nur noch zwei Gruppen von Arbeitskräften geben: „Diejenigen, die Computern sagen, was sie tun sollen – und jene, die von Computern gesagt bekommen, was sie tun sollen“. (Astheimer) Das lässt sich für Online-Kurse adaptieren: Wenige Unternehmen bestimmen, was mit Rechnern und Software gelernt werden soll, während potentielle Arbeitnehmer lernen (müssen), was ihnen ein Algorithmus vorsetzt. Online-Protokolle bezeugen die Unterordnung unter Avatar und Algorithmus, samt Lern- und Leistungsprofil. Das mag man „Digitale Bildung“ nennen. Doch wie beim Thema Datensicherheit (Stichwort „Safe Harbour“) stoßen angloamerikanische Konzepte auf europäische Traditionen. Der digital entmündigte Mensch ist für Demokraten und Humanisten keine Option, auch wenn es für manch einen Nutzer bequem scheint und es bereits Geschäftsmodell ist. So erweisen sich Szenen und Ausblicke des Buchs als digitaleuphorisches Blendwerk, das ungeachtet bekannter Probleme weiter der Hohelied der Digital-Ökonomie des Silicon Valley singt, obwohl die Misstöne längst überdeutlich zu hören sind.
Der Beitrag als PDF: Lankau: Digitale Lehrer …