eMail-Interview Anne Kathrin Doerr, Mannheimer Morgen, Februar 2017
Welche Befürchtungen haben Sie, wenn digitale Medien schon in der Kita eingesetzt werden? Welche Gefahren sehen Sie?
Es sind weniger Befürchtungen als vielmehr entwicklungspsychologische und pädagogische Überlegungen. Kein Kind braucht Bildschirmmedien, sondern Zuwendung und die Möglichkeit, seine Umgebung zu erkunden. Zeit am Display oder Touchscreen fehlt den Kindern für andere Erfahrungen und kindgerechte Formen des Spielens, Lernens und Experimentierens. Kinder müssen sich bewegen können und ihre Umgebung erkunden, sie müssen mit anderen Kindern interagieren, um sich als intelligente und soziale Wesen zu entwickeln. Das Sitzen vor einem Touchscreen verhindert körperliche, sinnliche und soziale Erfahrungen. Es verkürzt das Körpergefühl auf das Tippen und Wischen auf einer Glasscheibe und verengt die Sinnlichkeit auf den Gesichtssinn. Dabei verkümmert auch das Gehirn, weil es sich nicht aktiv entwickeln kann. Es gibt nichts Traurigeres als kleine (und große) Kinder, die durch Bildschirmen medial sediert (ruhig gestellt) sind. In der Kita haben digitale Medien daher in der pädagogischen Arbeit nichts verloren. In diesem Alter müssen Kinder die Welt im Wortsinn erst begreifen, also sinnlich erleben, anfassen, fühlen und schmecken,bevor sie zwischen Welt und medialer Darstellung unterscheiden lernen.
Ab wann und in welchem Maß halten Sie den Einsatz für sinnvoll?
Beim Medieneinsatz in Kita und Schule muss man zwischen den Medien unterscheiden, die die Lehrerin oder der Lehrer einsetzt und denen, mit denen die Kinder, Schülerinnen und Schüler selbst arbeiten. So nutzen z.B. 94% der Lehrerinnen und Lehrer digitale Medien für die Unterrichtsvorbereitung. Ob und für welchen Zweck digitale Medien dann im Unterricht eingesetzt werden, bleibt der einzelnen Lehrkraft und ihrem didaktischen Konzept überlassen. Lehrkräfte haben schließlich Methodenfreiheit.
Für die Schülerinnen und Schüler ergibt sich der didaktisch sinnvolle Einsatz von digitalen Medien im Unterricht aus dem Lebensalter und damit der Entwicklungsstufe der Kinder. Die ersten drei Jahre sollten z.B. komplett bildschirmfrei sein – und je länger diese bildschirmmedienfreie Zeit dauert, umso besser. In der Grundschule sollten generell keine Bildschirmmeiden eingesetzt werden. Wichtiger als die Frage, ab welcher Klasse (ich empfehle den Einsatz ab Klasse 6 oder 7) ist die Frage, ob diese digitalen Medien bzw. Geräte on- oder offline sind. Denn mit Lernprogrammen, die keine Daten von den Schülerinnen und Schülern speicher und auswerten, kann man ab Sekundarstufe I arbeiten, wenn es thematisch und didaktisch ins Unterrichtskonzept passt. elearningprogramme hingegen, bei denen Schülerdaten gespeichert und in der Cloud gespeichert werden, um daraus Lernprofile zu erstellen, sind juristisch und pädagogisch inakzeptabel. Die Daten an und zwischen Schulen dürfen weder getrackt noch daraus Lernprofile erstellt werden. Damit lösen sich zwar die Geschäftsmodelle der eLearninganbieter in Luft auf, aber das ist kein pädagogisches Problem.
Das Argument für einen frühen Einsatz lautet meist, dass die Kinder in ihrer Lebenswelt ohnehin mit digitalen Medien konfrontiert werden und sie somit eine Anleitung benötigen und es realitätsfern wäre, wenn man einen Schonraum ohne digitale Medien schafft (s. auch DIVSI-Studie). Wie beurteilen Sie das?
Das sind Scheinargumente. Schule muss nicht alles spiegeln, was in den Lebenswelten außerhalb der Schule zu finden ist. Sonst könnte man auch die ganze Zeit den Fernseher im Unterricht laufen lassen oder in der Schule Alkohol ausschenken. Schule schafft einen besonderen sozialen Raum außerhalb der Familie und „normalen“ Lebensumwelt, in dem von und miteinander gelernt werden kann und soll.
Eine Anleitung zur Bedienung von Geräten ist nicht Aufgabe von Schule. Und wer die DIVSI- oder KIM- oder andere Studien kennt, weiß, das so gut wie alle Jugendlichen digitale Geräte intensiv nutzen. Es gibt da definitiv weder Nachholbedarf noch Defizite – was die Bedienung und Benutzung der Geräte angeht. Die Frage ist eine ganz andere. Ab welchem Alter können Kinder selbstverantwortlich und selbstbestimmt mit Medien umgehen? Wann sind sie in der Lage, über ihr Tun und ihre Medienrezeption zu reflektieren? Paula Bleckmann benutzt dafür die Unterscheidung zwischen Medienbedienkompetenz, die schnell erlernt wird und Medienmündigkeit, die an das Alter der Kinder und Jugendlichen und ihre intellektuelle Entwicklung (Abstraktion und Reflexion) gebunden ist. Und da sollten die Schülerinnen und Schüler 12, 13 Jahre alt sein, bevor sie diese Geräte bekommen.
Es ist, um es mit einem Vergleich zu veranschaulichen, wie mit der Teilnahme am Straßenverkehr. Alle Kinder und Jugendlichen sollen unfallfrei am Verkehr teilnehmen können, aber ich setze keinen Acht- und auch keine Zwölfjährige hinter das Steuer eines Autos.
Können digitale Medien für Kinder Ihrer Meinung nach auch einen Mehrwert bieten oder lehnen Sie den Einsatz bis zu einem gewissen Alter kategorisch ab?
Zum Verständnis zwei Dinge vorweg. Unterrichten, Lehren und Lernen sind immer an Medien gebunden, wenn man darunter alle Medien, analoge wie digitale Medien, versteht. Das wichtigste Medium für Eltern, Erzieherinnen und Lehrkräfte ist z.B. die Sprache, das Erklären und Zeigen, auch das Vormachen. Je nach Lebensalter und Unterrichtsgegenstand ergänzt man weitere Medien wie Bilder, Bücher oder Übungsblätter oder zeigt auch mal einen Film, immer aber im Kontext des Unterrichts und abhängig vom Thema und dem Alter der Kinder bzw. Jugendlichen.
Ob dabei digitale Medien einen Mehrwert bieten hängt vom konkreten Fall und der didaktischen Situation ab. Während in der Grundschule nur die Lehrkräfte bei Bedarf auf Projektionen oder Animationen zugreifen können sollten, kann das in der Sekundarstufe I auch für Schülerinnen und Schüler sinnvoll sein (solange die Daten nicht getrackt werden). In Frage steht aber – und es gibt nach wie vor keine wissenschaftlich validen Studien – ob digitale Medien das Lernen verbessern können. Alle bisherigen Ergebnisse weisen in die andere Richtung. Selbst Vokabeln lernt man besser mit selbst geschriebenen Kärtchen als mit Software.
Gibt es mittlerweile Studien, die Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern untersuchen, die früh mit digitalen Medien in Kontakt waren?
Ja, sogar viele, angefangen bei der OECD-Studie „Students, Computers and Learning“. Zitat: „Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt es auf die Lehrperson an.“ In der gleichen OECD-Studie steht, wie man Schüler/innen sinnvoll fördert, wenn man Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit stärken will: durch die „Förderung von Grundkenntnissen in Rechnen und Schreiben“. Das trage mehr zur „Angleichung von Bildungschancen bei als die Ausweitung und Subventionierung von Zugang zu High-Tech Geräten und Dienstleistungen“.
Manfred Spitzer hat in seiner Stellungnahme für den Hessischen Landtag eine ganze Reihe von Studien zitiert (Tabelle S. 3) und formuliert als Antwort auf Frage 14: Welche Risiken birgt die Nutzung digitaler Medien für Kinder und Jugendliche?
„Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmmedien verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen der Sprachentwicklung und Aufmerksamkeitsstörungen (Zimmerman et al. 2007), erreicht nach großen Langzeitstudien insgesamt ein deutlich geringeres Bildungsniveau (Hancox et al. 2005) und wird aufgrund antisozialer Verhaltensweisen mit höherer Wahrscheinlichkeit kriminell (Robertson et al. 2013). Eine Spielekonsole verursacht bei Grundschulkindern nachweislich schlechte Noten im Lesen und Schreiben sowie Verhaltensprobleme in der Schule (Weis & Cerankosky 2010); ein Computer im Jugendzimmer von 15Jährigen wirkt sich negativ auf die Schulleistungen aus (Fuchs & Wössmann 2004) und im Jugendalter führen Internet und Computer zu einer Verringerung der Selbstkontrolle und zur Sucht (Fröhlich & Lehmkuhl 2012, Gentile 2009, Gentile et al. 2014, Kim 2011).“ (Spitzer 2016, S. 7, Quelle s.u.)
Gute Erziehung und guter Unterricht sowie Erfolg beim Lernen ist immer an qualifizierte Erzieher/innen und Lehrkräfte gebunden, nie an Medientechnik. Das zeigt zuletzt die Hamburger Studie, die an sich den positiven Einfluss von Digitaltechnik belegen sollte. Aber der Hamburger Schulsenator Rabe konnte im November 2017 als Ergebnis einer Studie über drei Jahre mit über 1300 Schülern als Fazit nur erklären, es seien durch den Einsatz von Laptops und Smartphones „im Vergleich zu anderen Schulklassen keine klaren negativeren, aber auch keine eindeutig positiveren Entwicklungen beim Lernstand der Schülerinnen und Schüler in den unterschiedlichen Unterrichtsfächern [zu] erkennen“. Das Projekt werde fortgesetzt. Es reicht offenbar schon, dass Digitaltechnik im Unterricht nicht nachweisbar schadet.
Der Leiter des Projekts, Prof. Dr. Rudolf Kammerl (zum Zeitpunkt der Studie Uni Hamburg, jetzt Uni Nürnberg) wird bei der Frage nach dem Einsatz von privaten Smartphones und Tablets nach dem BYOD-Prinzip (Bring your Own Device) deutlicher. Es sei festzustellen, dass das Hamburger BYOD-Projekt den Schülerinnen und Schülern weder zu einer messbar höheren Leistungsmotivation, noch zu einer stärkeren Identifikation mit der Schule [führe]“ (S.42). Es werde weder besser mit Quellen umgegangen noch [sei] eine höhere Informationskompetenz“ erreicht (S. 92) Das immerhin ist ein historische Konstante, nachzulesen bei Claus Pias (FAZ 2013). Er hat sich mit der Automatisierung der Lehre befasst, mit: „Unterrichtsmaschinen, Lerngutprogrammierung, Lehrstoffdarbietungsgeräte und Robbimaten. Die Idee, man könne Lehre automatisieren, um sparsamer, effektiver und sachgemäßer zu unterrichten, ist älter als Internet und Computer.“ Konstant ist nur das Scheiterns der Technik. Die definitiv einzige Nutznießer bei den derzeit konzipierten Projekten (Laptop- und Tabletklassen, BYOD, WLAN an Schulen) sind – wieder einmal – ausschließlich die Anbieter von Hard- und Software.
1) Manfred Spitzer: Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik. Hessischer Landtag, 14.10.2016: Digitalisierung und schulische Bildung. Anhörung durch die Enquetekommission „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischerBildung in Hessen“, Thema „Digitalisierung“.
Der Beitrag als PDF: Kinder lernen am besten ohne Bildschirmmedien