Potemkinsche Dörfer der deutschen Bildungspolitik (Text)

oder: Technikgläubigkeit als pädagogischer Offenbarungseid

Bündnis für humane Bildung: Kritik am Digitalpakt Schule

Wissen Sie noch – aus der Schule vielleicht – was potemkinsche Dörfer sind? Es ist ein Begriff für Blendwerk und die Vorspiegelung falscher Tatsachen. Der russische Feldherr und Staatsmann Grigorij Alexandrovič Potemkin hatte im Jahr 1787 im neu eroberten Neurussland entlang der Wegstrecke von Katharina der Großen ganze Dörfer nur aus bemalten Kulissen errichten und von Schauspielern als Dorfbewohnern bevölkern lassen, um der russischen Zarin auf Ihrer Reise durch diese Gebiete Wohlstand des Landes vorzutäuschen. Im übertragenen Sinn wird die Bezeichnung heute für nur äußerlich aufgehübschte Objekte benutzt, die ihre marode Struktur durch eine schmucke Fassade verdecken sollen. Der „Digitalpakt Schule“ ist so eine Potemkinsche Fassade für die öffentlichen Schulen. Mit großem Bohei werden fünf Milliarden Euro für fünf Jahre bereitgestellt – aber nur für digitale Infrastruktur, für digitale Endgeräte und die Nachschulung der Lehrkräfte zum Einsatz dieser Geräte. Dabei gibt es viel größere, vor allem strukturelle Probleme an Schulen.

Der Investitionsstau an den Schulen – für dichte Fenster und Dächer, funktionierende Toiletten und benutzbare Räume – liegt bei über 35 Milliarden Euro. Die Schulen sind seit Jahren unterfinanziert, sowohl in der pädagogischen Betreuung wie bei bei der Ausstattung mit Sachmitteln. Es fehlen bundesweit aktuell etwa 15.000 qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer, obwohl der Bedarf durch Schulpflicht und sechs Jahre zwischen Geburt und Einschulung (fast) für ein Lehramtsstudium für eine realistische Planung der Kultusministerien reichen würde. Laut Forsa-Umfrage 2019 für die Robert Bosch-Stiftung kämpft aber jede zweite Schulleitung mit Lehrermangel. 45 Prozent der Schulen behelfen sich mit Quer- und Seiteneinsteigern, d.h. mit Personen ohne Lehrerausbildung, Bei 68% von ihnen gibt es laut Studie in den Grundschulen Probleme. Die Zahl der an den Schulen eingesetzten „Lehrern ohne volle Lehrbefähigung“ – den sogenannten Lovls (Lehrkräfte ohne klassische Ausbildung, zum Teil sogar ohne Abitur) steigt. Es ist absurd: Die Berufe der Hebamme oder Erzieherin werden akademisiert, aber in Schulen unterrichten immer mehr Quereinsteiger, obwohl man weiß, dass Fachwissen alleine nicht reicht.

Das ist besonders an Grundschulen dramatisch, weil in den ersten Schuljahren und mit dem Erlernen der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen die Basis für die weitere Bildungsbiographie gelegt wird. Wer nicht richtig lesen und schreiben lernt, wird sich in allen späteren Schul- und Ausbildungsformen schwertun. Noch dazu sinkt das Leistungsniveau (IQB-Studie 2016). In Baden-Württemberg z.B. erreichten 13,4 Prozent der Viertklässler nicht einmal den Mindeststandard im Fach Deutsch. In Mathematik erreichten nur 62 Prozent den Mindeststandard oder waren besser. Baden-Württemberg, einst mit Bayern fast immer an der Spitze, rutschte innerhalb von fünf Jahren von Platz 5 auf Platz 13 der 16 Bundesländer. Die fehlende Qualifikation der Lehrkräfte ist nur ein Grund, was durch die steigende Heterogenität der Schülerinnen und Schüler noch verstärkt wird.

Alle Lehrkräfte, ob studiert oder nicht, treffen auf immer mehr Kinder, deren motorische Fähigkeiten ebenso unterentwickelt sind wie ihre Sprachentwicklung. In vielen Familien wird nicht (mehr) gesprochen oder vorgelesen. Die Fehlentwicklungen für Motorik, Intellekt und Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen, die durch übermäßigen Fernsehkonsum und Computerspielsucht seit Jahrzehnten bestätigt sind, steigen durch den dysfunktionalen Gebrauch von neuen Medien und Geräten wie Smartphones und Tablets exponentiell. Das Einstiegsalter für diese Bildschirmmedien sinkt laut KIM- und Bitkom-Studie stetig. Diese Geräte sind omnipräsent, die tägliche Nutzungsdauer steigt, schon bei Kleinkindern (siehe KIM-Studie 2018 und Grunddaten 2019).
Dazu kommen die nachgewiesenen gesundheitlichen Schäden: Rückgang des Lesens und damit einhergehend Hemmung der Sprachentwicklung, immer längere Bildschirmnutzungszeiten, die für andere Aktivitäten fehlt (Zeitverdrängungseffekt), soziale Vereinsamung und Isolation und als eine der Folgen ein Anstieg der psychischen Störungen bei jungen Menschen, Verlust der Fähigkeit zu Empathie, zunehmende Aufmerksamkeitsstörungen, Dauerstress (FoMo: Fear of Missing out), sexuelle Fehlprägung und ein erheblicher Anstieg von Kopfschmerzen und Schlafstörungen bereits bei Jugendlichen, um nur mal die bekanntesten und durch Studien vielfach belegte Folgen zu nennen. Dazu kommt der Elektrosmog durch WLAN, obwohl selbst Anbieter wie die Telekom empfehlen, Router nicht in Aufenthaltsräumen anzubringen usw. (Bündnis 2019, S. 9f.) Aber die Schulen und Klassenräume sollen laut CDU/SPD-Antrag in NRW dank „Digitalpakt Bildung“ eine „leistungsstarken Ausleuchtung der Schulen mit WLAN“ finanzieren?

Vor allem aber: Obwohl seit mehr als 30 Jahren jede neue Generation von digitalen Geräten mit den immer gleichen Argumenten (modern, motivierend, alternativlos) in die Schulen gedrückt wurden, ist der Nutzen von IT in Schulen nicht nachweisbar. Das bestätigte zuletzt die OECD-Studie zu Bildungsgerechtigkeit. Der wichtigste Voraussetzung für den Erfolg benachteiligter Schüler sind das gemeinsame Lernen mit Schülern, die gute Startbedingungen aufweisen und ein geordnetes und lernorientiertes Klima im Klassenzimmer Nicht relevant: Anzahl der Computer oder Tablets. (OECD 2018) Daher ist das aktuelle Ersatzargument für Mobilgeräte in Schulen jetzt: Smartphones, Web und App gehörten zur Lebenswirklichkeit der Schüler. Das ist die Kombination von pädagogischem Offenbarungseid mit Potemkinschen Fassaden und der Kotau vor Wirtschafts- und IT-Lobbyisten.

Der ganze Text als PDF (7 Seiten mit Quellen): Bündnis: Potemkinsche Dörfer der dt. Bildungspolitik (Digitalpakt 2019) Text

Die Forderungen als Webseite: Potemkinsche Dörfer der deutschen Bildungspolitik (Forderungen)

Die Forderungen als PDF (4 Seiten mit Quellen): Potemkinsche Dörfer der dt. Bildungspolitik (Forderungen)

Siehe auch: Kleines Glossar der sog. „digitalen“ Bildung

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