Bildschirmfrei bis Drei

Am Lebensanfang volle Wirklichkeitserfahrung ermöglichen

Gastbeitrag von Till Reckert, Silke Schwarz, Uwe Büsching und David Martin, zuerst publiziert in: Kinder- und Jugendarzt. 2020 Mar;51(3):195–199

Menschen haben bemerkenswerte Eigenschaften: Sie gehen aufrecht mit eigenaktiv gehaltenem Gleichgewicht, sie können ihre dadurch freien Hände als feine Universalwerkzeuge benutzen, sie kommunizieren und kooperieren bei eigenständigem Denken und Erinnern, übernehmen die inneren Perspektiven Anderer und lernen dabei sprechen (1). Dann haben sie gemessen an den Tieren eine bemerkenswert lange Kindheit und Jugendzeit, in der sie alles, aber auch alles selber lernen müssen, was sie brauchen, um sich bei aller menschlichen Eigenständigkeit in ihre Umgebung einerseits einzupassen und diese andererseits zu gestalten (2). Vor allem in den ersten Lebensjahren bildet das Kind gleichzeitig seinen eigenen Körper und dessen Nervensystem an vielen kleinen Anstrengungen zu einem Instrument, das ihm dann hilft, sein weiteres Leben immer selbstständiger zu meistern.

Dies alles schaffen Menschen nur, wenn sie sich aktiv um die Verwirklichung ihrer Visionen bemühen – auch dann, wenn dies beschwerlich ist. Und sogar das muss jedes Kind lernen. Kann verfrühte Bildschirmexposition kleine Kinder behindern, menschliche Grundfähigkeiten voll auszubilden? Im Folgenden soll es anhand einiger Aspekte um diese Frage gehen.

Sensomotorische Integration an Welterfahrungen

Eine phänomenologische (Selbst-)Beobachtung der eigenen Wahrnehmungen in der Welt und am eigenen Leib zeigt, wie unterschiedlich ein direkter oder ein (bildschirm-)medienvermittelter Weltkontakt wirkt(3,4). In der Kindheit entwickeln sich der eigene Körper und das Nervensystem in diesem Körper an diesen Erfahrungen und werden so zu einem fähigen Werkzeug für das Handeln, Empfinden und Erkennen. Bei dieser Entwicklung gilt auch im Nervensystem der Grundsatz: „Use it or loose it“. Es ist wichtig, zu Erlernendes mit allen Sinnen und sinnvoll handelnd gut in der körperlichen Erfahrung zu verankern (embodied cognition)(5). Heinrich Pestalozzis (1746-1827) „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ ist insbesondere im Vor- und Grundschulalter wichtig (6).

Bildschirmmedienerfahrungen werden ausschließlich über das Sehen und Hören vermittelt. Doch sogar diese beiden Sinne werden ungenauer und flacher angesprochen: Filme sind schlechter mit dem Ton synchronisiert und der Ton kommt nicht aus dem scheinbar sprechenden Mund auf dem Bildschirm, sondern aus den Lautsprechern daneben. Bildschirmmedien eignen sich also nicht einmal dazu, die Fähigkeiten des Hinsehens und Hinhörens frühkindlich präzise auszubilden. Riechen, Schmecken, Vibration, Luftzug und Wärmewahrnehmungen sind ausgeschlossen. Wenn wir sitzend auf den Bildschirm blicken, haben unsere Körperwahrnehmungen (Eigenbewegung, Tastsinn, Gleichgewicht) nichts mit der dort abgebildeten Situation zu tun: Mediennutzer werden tendenziell zu bewegungslosen Kopfmenschen, die sich vom Rest ihres Körpers entkoppeln (3).

Man kann Bildschirmmedienkonsum also als sensomotorische Desintegration bezeichnen: Die verschiedenen körperlichen Sinne lernen ihre Zusammenarbeit schlechter, werden also suboptimal zu einem Werkzeug für das spätere Leben gebildet. Eltern kann man daher sagen: „Wenn Kinder, die sich noch in die Wirklichkeit einleben, viel Zeit vor Bildschirmen verbringen, verarmt und verfälscht dies ihre Wirklichkeits- und Selbstwirksamkeitserfahrungen. Erst wenn sie diese gemacht haben, können die Informationen durch das Medium bereichernd sein. Bildschirmvermittelte Lerninhalte sind bequemer vermittelbar, verankern sich aber oberflächlicher als sinnlich weitaus realistischere und komplexere Welterfahrungen, vor allem, wenn letztere mit Hilfe eigenen Handelns erworben wurden. Insbesondere kleine Kinder brauchen die ganzheitliche und körperliche Auseinandersetzung mit der vollen Wirklichkeit, um sich zu körperlicher und psychischer Gesundheit hin entwickeln zu können.“

Bindung

Je mehr Zeit Kinder Bildschirmen widmen, desto weniger kommunizieren sie mit Eltern und Freunden und desto weniger Bindung entwickeln sie zu ihnen. Erfahrungen, die mit diesen Bindungen einhergehen, verstärken die urmenschliche Fähigkeit zur Empathie. Je weniger Empathie Menschen in ihrer Kindheit entwickelten, desto schwerer haben sie es später miteinander im analogen Leben. Je schwerer Empathie im mitmenschlichen Leben fällt, desto eher kann ein Rückzug in die digitale Welt später zu einem pathologischen Internetgebrauch oder dysfunktionaler Internetkommunikation („Hasskommentare, Cybermobbing“) führen(7). Eltern kann man in diesem Zusammenhang sagen: „Auch unsere feinen sozialen Fähigkeiten üben wir ab dem frühesten Säuglingsalter nur im direkten Miteinander. Darauf gründet unsere mitmenschliche Empathie. Diese wiederrum verringert unter anderem das spätere Risiko schlechter digitaler Kommunikation und andere Formen des pathologischen Internetgebrauchs bis hin zur Internetsucht.“

Spracherwerb

Während des Spracherwerbes muss das Kind lernen, drei sprachliche Ebenen wahrzunehmen, aufeinander zu beziehen und zu erzeugen: Erstens die für sich genommen zunächst bedeutungslosen (aber lautmalerisch wichtigen) Sprachlaute, zweitens die Bedeutung von Wörtern und Sätzen und drittens den auszutauschenden gedanklichen Inhalt hinter den Wort- und Satzbedeutungen. Diese drei Ebenen treten sprachlich immer zusammen auf, können nicht auseinander abgeleitet werden, sind aber unter bestimmten Bedingungen voneinander trennbar: Der gedankliche Inhalt sollte bei einer Übersetzung in eine andere Sprache möglichst gleich bleiben, während die ihn möglichst gut beschreibenden neuen Wörter und Sätze in der neuen Sprache gefunden werden müssen. Die Sprachlaute der ersten Ebene können durch Gesten oder geschriebene Zeichen ersetzt werden. Gestik und Mimik kann sogar Bedeutungen vermitteln, die nicht direkt mit Wörtern in Verbindung stehen (8).

Erfolgreiches Zuhören und Verstehen geht mit einem Mitvollzug dieser drei Ebenen einher, wie sich anhand synchroner Hirnaktivierungen der Hörzentren, Sprachzentren, und frontaler Hirnbereiche bei Sprecher und Hörer zeigen ließ. Interessanterweise war das Verstehen am besten, wenn die Hirnaktivierungsmuster im frontalen Bereich des Hörers antizipierend zu denen des Sprechers abliefen, während die Hörzentren des Hörers gleichzeitig mit dem Sprecher und die Sprachzentren leicht nachfolgend aktiviert waren(9). Man versteht also dann am besten, wenn man gelernt hat, innerlich eigenaktiv und antizipierend das hervor zu bringen, was der Sprecher im Zusammenhang mit einer bestimmten Situation gleich sagen könnte, um dies dann mit dem tatsächlich wahrnehmbar Gesagten abzugleichen (10). Dieses intersubjektive Koppeln der Hirnaktivitäten und das damit einhergehende Verstehen gelingt in einem Face-to-Face-Dialog besser als in einem Monolog. Es gelingt schlechter, wenn das Gesicht des Gesprächspartners nicht sichtbar ist (Back-to-Back-Dialog oder -Monolog) (11).

Damit wird verständlich, dass es nicht ohne Folgen bleiben kann, wenn ein (auch im Hintergrund) laufender Fernseher messbar die kindlichen Sprachäußerungen und die Dialoge zwischen Erwachsenen und Kindern vermindert und vom Hin- und Zuhören ablenkt (12).

Gute Sprach- und Denkfähigkeiten sind Vorläuferfähigkeiten für den souveränen Umgang mit Medien. Diese werden ursprünglich nicht mit Medien erlernt, sondern später auf den Umgang mit ihnen angewandt. Medien verhelfen insbesondere kleinen Kindern nur dann zum Spracherwerb, wenn sie ein Vehikel für direkte mitmenschliche Kommunikation sind; das gemeinsame Anschauen eines Bilderbuches regt dabei aber zu viel mehr direkter Kommunikation an, als das gemeinsame Anschauen eines Filmes (13).

Eltern kann man also völlig berechtigt sagen: „Kinder lernen von Geburt an sprechen, wenn Mitmenschen ihnen zuhören und antworten. Sie wollen mit Ihnen gemeinsam die Welt erleben und sich darüber austauschen. Sprechend lernen sie denken und denkend lernen sie sprechen. Und sie lernen es nur zusammen mit anderen Menschen innerhalb der Situationen, in denen sie interagieren und sprechen. Sie lernen es nicht von Apparaten, die nur so klingen, als ob sie sprechen und nur so tun, als ob sie interagieren. Wenn Kinder sprachlich in ihrem Alltag nicht gut gefördert werden, weil nur wenig mit ihnen interagiert wird, so ist dies ein Hindernis auf ihrem weiteren Lebensweg.“

Sprechen lernt man also nur aktiv. Dazu muss jemand da sein, der auch zuhört und sich für die kindliche sprachliche Kreativität interessiert, sich an ihr freut und verständlich antwortet.

Krea(k)tivität

Diese frühe, ständige Übung der Kreativität als Teil der menschlichen und menschheitlichen Wirklichkeit ist aber auch in einem noch viel weiter gefassten Sinne wichtig. Denn der Mensch meistert sein Leben nur dann gut, wenn er kreativ ist. Daher fügten wir Kinder- und Jugendärzte in unsere Empfehlungen zu einem achtsamen Bildschirmmediengebrauch (14) den folgenden Satz ein, der über Medienpädagogik im engeren Sinne weit hinausgeht, aber auf diesem Feld besonders oft missachtet wird: „Ermöglichen Sie Ihrem Kind, kreativ zu werden, indem Sie ihm weniger vorgeben.“

Eigenschöpferisches, kindliches Spiel gedeiht in einer sicheren Umgebung, die nicht die Fähigkeit von Kindern unterläuft, spontan zu denken und zu handeln. Dies geschähe, wenn man Kinder dauernd mit Reizen und Handlungsaufforderungen überflutet. Kinder erlangen dann kein Gefühl für ihre eigene Fähigkeit, unabhängig Probleme zu lösen und den Dingen um sich herum Bedeutungen zu verleihen. Alles allzu präformierte Spielzeug kann hierbei hinderlich sein.

Vergleichbar präformiert sind Filmhelden verglichen mit den Helden, die man sich vorstellt, wenn man einer erzählten Geschichte lauscht. Dies wirkt sich auch auf das nachfolgende Spiel aus, welches an situationsgerechter Variabilität, Innigkeit und damit Qualität verliert. Wenn Kinder mit einem Spielzeug spielen, das eine Figur aus einer Fernsehserie darstellt, spielen sie unkreativ, vor allem direkt nach dem Fernsehen (13).
Erwachsene mit kreativen Fähigkeiten haben sich als Kinder häufiger selbstorganisiert spielend in selbstgeschaffene Welten hineinphantasiert (15) und ihre Kreativität im freien Rollenspiel geübt (16). Wenn Erwachsene das kindliche Spiel begleiten, sprechen sie und die Kinder mehr miteinander, wenn sie traditionelles, einfaches Spielzeug benutzen und nicht elektronisches Spielzeug (17).

Eltern kann man also sagen: „Kinder schaffen mit der Kraft ihrer Phantasie täglich neue Welten. Einfache, natürliche und unterschiedlich verwendbare Spielsachen unterstützen sie dabei. Kinder üben so eine zukünftige Kernkompetenz. Ein gutes Kinderspielzeug bestehe daher zu 90% aus Kind und zu 10% aus Zeug (sei also umso einfacher, je kleiner das Kind ist). Bildschirmmedien sind das Gegenteil davon: Schon eine erzählte Geschichte regt dazu an, dass sich Kinder individuelle innere Bilder machen, während dieselbe Geschichte als Film einheitliche äußere Bilder z. B. aus der „Traumfabrik Hollywood“ in die kindliche Vorstellungswelt transplantiert. Hat man eine Geschichte einmal als Film gesehen, wäre ein Leseerlebnis nachher weniger ein eigenes.“

Fazit und Ausblick

Die primäre Sinnes- und Motorikentwicklung sowie die Sprach- und Denkentwicklung sollten also fortgeschritten sein, bevor Eigenaktivität und Selbstbildung an der Welt durch Bildschirmmedien erschwert werden

In einem später folgenden Aufsatz wird es um die Frage gehen, wie wir als Kinder- und Jugendärzteschaft weiter dabei helfen können, den Slogan „Bildschirmfrei bis Drei“ zu evaluieren und in dem Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern. Dieser Slogan ist in den verbändeübergreifenden pädiatrischen Empfehlungen für Eltern zum achtsamen Bildschirmmediengebrauch (14) enthalten.

Die Autoren führten im Rahmen eines Verbundes zwischen der Universität Witten/Herdecke und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte im letzten Jahr mit niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten die prospektive, multizentrische Pilotstudie „Medienfasten“ durch (18,19). Aktuell arbeiten sie zusammen mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und der DAK an einem großangelegten Projekt, welches einen randomisierten halben Jahrgang Neugeborener mit ihren Familien und Pädiatern in Deutschland erreichen soll. Davon werden wir in Kürze mehr berichten.


Literatur

Reckert Till, Schwarz Silke, Büsching Uwe, Martin David. “Bildschirmfrei bis Drei”: Am Lebensanfang volle Wirklichkeitserfahrung ermöglichen. Kinder- und Jugendarzt. 2020 Mar;51(3):195–199.

1. Suddendorf T. Der Unterschied: Was den Mensch zum Menschen macht. Berlin: Berlin Verlag; 2014.

2. Rosslenbroich B. Entwurf einer Biologie der Freiheit: Die Frage der Autonomie in der Evolution. Stuttgart: Freies Geistesleben; 2018.

3. Hübner E. Medien und Pädagogik: Gesichtspunkte zum Verständnis der Medien. Stuttgart: DRUCKtuell; 2015.

4. Auer W-M. Sinnes-Welten. München: Kösel; 2007.

5. Kiefer M, Trumpp NM. Embodiment theory and education: The foundations of cognition in perception and action. Trends in Neuroscience and Education. 2012 Dec 1;1(1):15–20.

6. Spitzer M. Editorial: Wischen – Segen oder Fluch? Nervenheilkunde. 2013;32(10):709–14.

7. Melchers M, Li M, Chen Y, Zhang W, Montag C. Low empathy is associated with problematic use of the Internet: Empirical evidence from China and Germany. Asian J Psychiatr. 2015 Oct;17:56–60.

8. Kiene H. Grundlinien einer essentialen Wissenschaftstheorie. Verlag Urachhaus Johannes M. Mayer.; 1984.

9. Stephens GJ, Silbert LJ, Hasson U. Speaker–listener neural coupling underlies successful communication. Proc Natl Acad Sci U S A. 2010 Aug 10;107(32):14425–30.

10. Schoot L, Hagoort P, Segaert K. What can we learn from a two-brain approach to verbal interaction? Neurosci Biobehav Rev. 2016;68:454–9.

11. Jiang J, Dai B, Peng D, Zhu C, Liu L, Lu C. Neural Synchronization during Face-to-Face Communication. J Neurosci. 2012 Nov 7;32(45):16064–9.

12. Christakis DA, Gilkerson J, Richards JA, Zimmerman FJ, Garrison MM, Xu D, et al. Audible television and decreased adult words, infant vocalizations, and conversational turns: a population-based study. Arch Pediatr Adolesc Med. 2009 Jun;163(6):554–8.

13. Bleckmann P. Medienmündig: Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen lernen. Stuttgart: Klett-Cotta; 2012.

14. Achenbach M, Büsching U, Fricke C, Lawrenz B, Meissner T, Mendes U, Oberle A, Reckert T. Pädiatrische Empfehlungen für Eltern zum achtsamen Bildschirmmediengebrauch. 2018.

15. Root-Bernstein M, Root-Bernstein R. Imaginary Worldplay in Childhood and Maturity and Its Impact on Adult Creativity. Creativity Research Journal. 2006 Oct 1;18(4):405–25.

16. Russ SW. Pretend Play: Antecedent of Adult Creativity. New Dir Child Adolesc Dev. 2016;2016(151):21–32.

17. Sosa AV. Association of the type of toy used during play with the quantity and quality of parent-infant communication. JAMA Pediatr. 2016 Feb 1;170(2):132–7.

18. Reckert T, Schwarz S, Martin D. Pilotprojekt 2019: Medienfasten. PädNetzS Info. 2019;2019/1:6–9.

19. Schwarz S, Krafft H, Büssing A, Boehm K, Reckert T, Büsching U, Martin D. Self perceived usage of digital screen media and intentions to reduce it: An open, prospective, multi-centered, pseudonymized survey among parents and their children. Archives of Pediatrics. 2019 Nov 19