Zum „Denken lernen“ brauchen wir ein Gegenüber

Über die Bedeutung des Präsenzunterrichts gerade in Pandemie-Zeiten

in: Magazin Campus der Hochschule Offenburg, Heft 46/2020, S. 52

Die technische Umstellung von Präsenz- auf Onlinelehre ist für eine technische Hochschule wie Offenburg und dank der Abteilung Z3 als zentralem Informationsdienstleister gelungen. Zugleich wird im Corona-Semester deutlich, dass es offene Fragen gibt, auch wenn die zukünftige Digitalisierung von Lehre und Unterricht gesetzt scheint: „Der Rubikon ist schon überschritten, es gibt kein Zurück mehr, was die Digitalisierung nach der Corona-Krise betrifft. Der Druck, über intelligente Software zu verfügen, wird immer größer, auch um die Lehrkräfte zu entlasten. (…) Solche Systeme werden sich durchsetzen, auch weil alle damit rechnen, dass sich Krisen, wie wir sie jetzt durch Covid-19 erleben, wiederholen können. Kein Bundesland wird es sich mehr leisten können, keine Digitalisierungsstrategie für die Schulen zu haben.“ (Olaf Köller, zit. n. Ebbinghaus, FAZ 2020)

Die Anfangseuphorie des „Studieren vom Sofa aus“ verebbte allerdings schnell. Eine Videokonferenz nach der anderen führt fast automatisch zum Abschalten, nicht nur der Kamera. Auch Diskussionen in Kleingruppen wirken zunehmend steril, da Kamera und Mikrofon nur akustische und visuelle Signale übertragen, aber kein echtes Miteinander ermöglichen. Alles bleibt zweidimensional und technisch vermittelt. Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So jedenfalls Immanuel Kant im Text „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten. Der ehemalige Leiter des MIT, Rafael Reif, bestätigte Kant im NZZ-Interview (2015): „Die Ausbildung bei uns besteht aus drei Komponenten. Erstens: das Lernen von bestehendem Wissen. Zweitens: das Verbessern von bestehendem Wissen. Drittens: die Anwendung des Wissens, um etwas Neues zu schaffen. Den letzten Punkt nennt man Innovation. Digitales Lernen können wir nur für den ersten Teil nutzen. Aber wir gewinnen damit mehr Zeit für die beiden anderen Komponenten.“ Punkt Zwei ist das Arbeiten im Seminar.

Carlo Ratti (MIT) berichtet von einem Experiment in Corona-Zeiten, als Update einer Studie des Soziologe Mark Granovetter von 1973 über „starke Bindungen“ (enge Beziehungen) und „schwache Bindungen“ (zufällige Bekanntschaften). Digitale Kommunikation funktioniere nur in der eigenen Gruppe gut, so Ratti im Preview. Für Kreativität und Innovation seien aber zufällige Begegnungen in der Mensa, auf dem Campus oder Bus entscheidend. Dort würden andere Fragen gestellt, neue Perspektiven eröffnet. Die Quintessenz: Ob Schule oder Hochschule – wir brauchen echte Begegnungen. Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der nicht digital kompensiert werden kann, wenn Verstehen das Ziel ist, nicht nur Repetition. Medien und Medientechnik können Lernprozesse unterstützen, aber wir lernen durch Dialog und Diskurs.

Der Beitrag als PDF: Lankau: Denken lernen (Campus Heft 46/2020)