Am 10. Mai 2017 veröffentlichte der „Aktionsrat Bildung“ der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) das Gutachten „Bildung 2030“ – Veränderte Welt. Fragen an die Bildungspolitik“. Die Kernbotschaft: Schulen müssen digitaler werden. Am Nutzen der Digitaltechnik bestehe kein Zweifel. Das Problem: In genau der Studie, auf der die Pressemeldung basiert, steht exakt das Gegenteil – und auch die logischen Schlussfolgerungen sind gegensätzlich.
Die dpa-Meldung über das vom Aktionsrat publizierte Gutachten und den angeblichen Nutzen von Digitaltechnik im Unterricht wurde bundesweit publiziert. Die Süddeutsche Zeitung titelte: „Aktionsrat Bildung: Schulen müssen digitaler werden. Deswegen müsse der Einsatz digitaler Lehrmittel bundesweit verstärkt werden.“ (1) Auch die Welt stößt ins gleiche Horn: „Schulen müssen digitaler werden.“ (2) Der Deutschlandfunk lässt gleich den Vorsitzenden des Aktionsrats Bildung, Mitautor der Studie und Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, sein bekanntes Credo formulieren: Lehrerinnen und Lehrer müssten lernen, digitale Elemente in ihren Unterricht einzubauen. (3) Begründet wird das mit der angeblichen Kompetenzsteigerung durch Computernutzung, die durch Sekundäranalysen auf der Datenbasis der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU, 2011) und Entwicklungen in den „Trends in International Mathematics and Science Study“ (TIMSS, 2011) belegt würden. In der zitierten, ergänzenden Auswertung steht aber exakt das Gegenteil. (4)
Im zuerst publizierten Gutachten der VBW hieß es (Seite 78), „dass Grundschülerinnen und Grundschüler in Deutschland, in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt wurden, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant höhere Kompetenzen aufwiesen als jene Grundschulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzten “. In der, auf Hinweis einer aufmerksamen Leserin, korrigierten Version vom 16.5.2017 heißt es nun, dass „Grundschülerinnen und Grundschüler in Deutschland, in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt wurden, in den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant niedrigere Kompetenzen aufwiesen als jene Grundschulkinder, die seltener als einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzten“. (Hervorhebung vom Autor.)
Niedrigere Kompetenzen durch Computer
Schülerinnen und Schüler erreichen niedrigere Kompetenzen durch den Einsatz von Computern statt höhere. Das entspricht dem Stand wissenschaftlicher Forschung. In der Telekom-Studie „Schule digital. Der Länderindikator 2015“ , weist z.B. Wilfried Bos, (Institut f. Schulentwicklung IFS, TU Dortmund und Mitautor der VBW-Studie), selbst auf den fehlenden Nutzen von Digitaltechnik für bessere Unterrichtsergebnisse hin. Dafür zitiert er die OECD-Studie „Students, Computers and Learning“:
„Die Sonderauswertung hat auch gezeigt, dass Staaten, die in den letzten Jahren verstärkt in die Ausstattung der Schulen investiert haben, in den vergangenen zehn Jahren keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erzielen konnten. Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt es auf die Lehrperson an.“ (S. 8)
Die Bedeutung der Lehrperson als entscheidender Parameter für gelingenden Unterricht ist Konsens aller wissenschaftlich validen Studien. Selbst der gewiß nicht digitalkritische Chef des OECD-PISA-Programms Andreas Schleicher schreibt im Vorwort zur Studie „Students, Computers and Learning: Making the Connection“ (2015, 3):
„Die Ergebnisse … zeigen keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistung in Lesen, Mathematik oder Wissenschaft in den Ländern, die stark in die Informations- und Kommunikationstechnologie für Bildung investiert hatten“.
Eine australische Zeitung zitiert ihn mit den Worten:
„Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt.“ (5)
Derlei Zitate fehlen im Gutachten der VBW ebenso wie in den Publikationen der beteiligten Wissenschaftler.
Korrektur nicht nur des Gutachtens notwendig
Wie also kommt der Aktionsrat zu seiner wissenschaftlich nicht zu begründenden Forderung nach mehr Digitalisierung in Schulen? Der Aktionsrat besteht aus dreizehn Bildungswissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Wieso merkt keine(r) von ihnen, dass dieses Gutachten zu ungewöhnlichen Ergebnissen kommt? Ärgerlich ist, dass weder der Aktionsrat noch die beteiligten Wissenschaftler/innen die Falschmeldung ebenso öffentlichkeitswirksam korrigieren wie sie die Erstfassung der Studie und die Falschmeldung verbreitet haben. Denn die Forderung des Aktionsrats wie der Bildungswissenschaftler aufgrund der (nun korrekt zitierten Studie) müsste sein: weniger Informationstechnik an Schulen, mehr Lehrkräfte und mehr personelle Betreuung statt Rechner und Software.
Vor diesem Hintergrund sollte der Aktionsrat auch seine Leitfragen an die Bildungspolitik (S. 83) überdenken. Weder der Aufbau eines bundesweiten digitalen Hochgeschwindigkeitsnetzes noch multimedial gestaltete Lehr-Lern-Umgebung oder zusätzliche finanzielle Mittel für den Aufbaue einer „nachhaltigen digitalen Infrastruktur“ sind vom Kindeswohl oder von Bildungsprozessen aus ausgedacht. Was hier gefordert wird, ist Digital- als Messtechnik (Stichworte Learning Analytics, Big Data und psychometrische Vermessung des Menschen). Bedient werden lediglich die Interessen der empirischen Bildungsforschung, die auf digital automatisierte Lernleistungskontrolle und Lernprozessteuerung fokussiert. Bildung aber ist kein Produktions- Steuerungs- und Messprozess, sondern an Persönlichkeiten auf Seiten der Lehrenden wie Lernenden gebunden. Richtig zitiert und verstanden würde daher auch vom Aktionsrat und VBW anderes gefordert.
Nachtrag
Am 24.5.2017 hat die dpa die Meldung korrigiert (Berichtigung der dpa 3851 vom 10.05). „München (dpa/lby) – Die Schulen in Deutschland müssen nach Ansicht des Aktionsrats Bildung digitaler werden. (…) Für das Gutachten haben die Wissenschaftler umfassendes Material ausgewertet. Unter anderem hatten sie darauf hingewiesen, dass schon Grundschüler, die einmal pro Woche am Computer arbeiten, deutlich bessere Kompetenzen im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften hätten. Dieser Schluss hat sich inzwischen als Fehler der Auswertung erwiesen – tatsächlich zeigen diese Schüler niedrigere Kompetenzen, wie eine Sprecherin der Verantwortlichen sagte. Das ändere aber nichts an den Herausforderungen für die Bildungswelt, die das Gutachten beschreibe.“
Das heißt auf gut deutsch: Was immer Studien ergeben, die Digitalisierung von Schule und Unterricht bleibt das Ziel der Wirtschaftsverbände und der ihnen zuarbeitenden Wissenschaftler.
- Artikel in der Süddeutschen: http://www.sueddeutsche.de/news/leben/familie-aktionsrat-bildung-schulen-muessen-digitaler-werden-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-170510-99-390625
- Artikel in der Welt: https://www.welt.de/regionales/hamburg/article164429853/Schulen-muessen-digitaler-werden.html
- Interview Deutchlandfunk: http://www.deutschlandfunk.de/digitalisierung-von-schulen-als-instrument-ist-es-in-jeder.680.de.html?dram:article_id=385874
- Kahnert, J. & Endberg, M. (2014). Fachliche Nutzung digitaler Medien im Mathematikunterricht der Grundschule. In: B. Eickelmann u.a. (Hrsg.): Grundschule in der digitalen Gesellschaft. Befunde aus den Schulleistungsstudien IGLU und TIMSS 2011, S. 85-96, Münster: Waxmann
- Artikel Sydney Morning Herald, 1.4.2016; Bagshaw E. The reality is that technology is doing more harm than good in our schools‘ says education chief. Sydney Morning Herald 1.4.2016
- Aktionsrat Bildung: Veranstaltung „Deutschland hat Zukunft“ am 10. Mai 2017 und das am 16.5.2017 korrigierte Gutachten.
Der Beitrag als PDF: Falsch zitiert und falsch gemeldet