Statements Lankau zur Podiumsdiskussion mit Volker Arntz, Prof. Dr. Uta Hauck-Thum, Prof. Dr. Ralf Lankau, Prof. Dr. Marcell Saß, Dario Schramm & Prof. Dr. Felix Stalder im Rahmen der halbtägigen fächerübergreifenden Tagung „Diskurs digitale Bildung“ am Zentrum für Lehrerbildung der Philipps-Universität Marburg am 10. März 2021.
(1) Bildung und Digitalität sind …
… Begriffe, die außer ihrer Substantivierung und Funktion als Kofferbegriff (jeder packt hinein, was gerade nützlich scheint) nichts gemein haben. Bildung ist etwas Individuelles, nicht Messbares, Teil der Persönlichkeit. Es ist eigene Aktivität nötig.
„Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“ schreibt der Schweizer Philosoph Peter Bieri (Bieri 2005*) Digitalität wäre in diesem Verständnis der Gegenbegriff: Eine Sammlung dessen, was Menschen mit digitalen Endgeräten, Diensten und Infrastruktur tun (können) bzw. was mit Ihnen gemacht wird. Der Kern alles Digitalen ist die Metapher des Berechnens und der Rechenmaschine. Über den digitalen Zwilling wird menschliches Verhalten berechenbar. (1)
Auf das Denken und Lernen übertragen: Bildung ist das Versprechen und die Hoffnung für Ergebnisoffenheit und Vielfalt menschlichen Denkens, für das Nicht- und Unberechenbare, für das weite Feld der Inspiration, Intuition und Imagination. Computational Thinking (dt. informatorisches Denken als „Denkschemata der Digitalität“) fokussiert und verkürzt auf das, was sich berechnen lässt. Würde Digitalität zum Paradigma von Bildung, wäre Bildung ein mathematisches Produkt. (2)
(2) Lehrkraft – Fach – Lernende verhalten sich unter dem Vorzeichen der Digitalität zueinander wie …
… unter jedem anderen fachfremden Vorzeichen. Beispiel: Lehrkraft – Fach – Lernende verhalten sich unter dem Vorzeichen der Mobilität zueinander wie … Ist die Lehrkraft mobil und unterrichtet stundenweise an verschiedenen Schulen (Praxis durch die Inklusion)? Sind die Lernenden mobil und wollen unterwegs lernen., a) mit dem Buch (keine technischen Voraussetzungen nötig außer Licht), b) am Laptop (geladener Akku oder Steckdose müssen vorhanden sein) oder c) selbst mobil und das Lehrmaterial steht im Netz (geht nur mit WLAN)?
Ob a), b) oder c): Mobilität sagt, wie Digitalität nichts über Fach und Fachlogik, nichts über konkrete Inhalte, mediale Codierung oder didaktische bzw. fachspezifische Methoden.
(3) Erfolgreicher Unterricht hängt ab von …
… den beteiligten Personen, der kulturellen und sozialen Situation und dem wechselseitigen Vertrauen. Unterricht ist die Vermittlung von Wissen und Verständnis durch direkte Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, meist in einem formalen Rahmen wie einer Schule oder Hochschule, aber auch im Musik- oder Kunstschulen oder außerschulisch im Sport- oder Tanzverein oder schlicht „im praktischen Leben“, wenn z.B. Kinder mit (Groß-)Eltern oder Geschwistern kochen oder backen lernen. Unterricht ist immer ein direktes Miteinander im Gegensatz zu mediengestützten Selbstlernphasen.
(4) Die Folgen von Corona für die Bildungslandschaft sind …
auf den ersten Blick verheerend, weil ohne Diskussion in Technik und Infrastruktur investiert wurde und jetzt nicht funktionierende Konzepte von Fernunterricht (Studie Engzell; 3) als Standard verstetigt werden sollen (FDP-Antrag. Landtag Thüringen (4) und Stellungnahme Lankau (5). Belegt sind schon jetzt sowohl massive körperliche wie psychischen Schäden6 durch die verordnete Isolation sowie die Vertiefung und Konsolidierung der sozialen Spaltung.
Die Folgen von Corona könnten aber auch zu einer Besinnung führen, da sie deutlich gemacht haben, dass der Präsenzunterricht für das Verstehen notwendig ist, während (digitale) Medien den Präsenzunterricht und Dialog in Selbstlern- und Übungsphasen begleiten und ergänzen können. Zum Denkenlernen brauchen wir ein menschliches Gegenüber und den interpersonalen Dialog, schreibt Immanuel Kant in seinem Text „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ von 1786. Sonst bekommen wir nur wir leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimielernen) trainieren, aber nicht zum selbständigen Denken und Fragen kommen.
Man könnte …
Man könnte sich auch als erstes darauf einigen, dass Bildungseinrichtungen keine Wirtschaftsunternehmen, Kinder, Schüler und Studierende keine „Kunden“, Lehrerinnen und Lehrer keine Dienstleister sind und die Kommerzialisierung von Schule und Unterricht zu genau so desaströsen Ergebnissen führt wie in den Public Schools in Amerika und anderswo. Man könnte die vielen Berater, StartUps und Verkäufer aus den Schulen schmeißen und sich darauf verständigen, dass kein Material von Lobbyisten eingesetzt wird, kostenlos oder nicht. Man könnte die Digitalpakt-Gelder umwidmen zu Schulfördermitteln, die über die fünf Jahre hinaus verstetigt würden und über die jede einzelne Schule nach eigenem Bedarf entscheiden kann. Man könnte sich darauf einigen, dass beim Einsatz von Rechnern und Software keinerlei Daten von Minderjährigen gespeichert und ausgewertet werden und keinerlei Persönlichkeits-, Lern- oder sonstige Profile erstellt werden.
Man könnte … so viele sinnvolle Dinge tun, wenn nicht Betriebswirtschaftler, Informatiker und Psychologen der empirischen Bildungsforschung das Regime an Schulen übernommen und die Maximen des Total Quality Management (TQM) mit den für Schulen sinnfreien Kennzahlen und Rankings durchgedrückt hätten.
Aus: Lankau, Ralf (2020): Digital first und Mobil only – Beispiel Schule und Unterricht – Die Corona-Welle reiten 01,
*Bieri, Peter (2005) Wie wäre es, gebildet zu sein?, https://www.nzz.ch/articleDAIPS-1.182217 (29.1.2021)
Das Programm mit den Statements der Kolleginnen und Kollegen
Diskurs # Bildung und Digitalität
Quellen und Fussnoten
1 )Etwas zu digitalisieren beschreibt den Prozess, beliebige Informationen technisch so zu konvertieren, das sie zu Daten und damit maschinenlesbar werden. Aus Daten werden Digitalisate. Das englische „digitality“ übersetzt sich regulär mit „the quality of being digital“ (die Qualität, digital zu sein) und intendiert als technische Spezifikation Begrifflichkeiten wie Normierung, Standardisierung und algorithmische Berechenbarkeit.
2) Kollegen wie André Schier oder Felix Stalder definieren das anders, aber das Umdefinieren bzw. neu Besetzen von Begriffen negiert weder deren Herkunft noch deren immanenter Logik.
3) „Niederländische Schulen gelten als digitale Vorreiter. Doch selbst dort zeigt eine Studie: Der Unterricht im Netz bringt kaum Lernfortschritte – besonders bei Kindern mit schwierigem sozialem Umfeld. (…) Trotz des Onlineunterrichts hätten die Schülerinnen und Schüler „wenig bis nichts“ gelernt, heißt es in einer neuen Studie [Engzell et.al. 2020: rl] des Leverhulme Centre for Demographic Science. (…) „Die Ergebnisse der Studie sind besonders besorgniserregend, da die Niederlande so viele Dinge richtig gemacht haben“, sagt Mitautor Arun Frey: Lehrer und Schulbeamte hätten „enorme Anstrengungen unternommen und die Regierung hat sogar Laptops für alle Kinder gekauft, die einen benötigen“. Trotzdem bestätigten die Ergebnisse des Onlineunterrichts „viele der schlimmsten Befürchtungen, die Pädagogen anfangs des ersten Lockdowns hatten“.“ (Spiegel, Nov. 2020)
4) Thüringenweite Grundlagen für Digitalunterricht schaffen – Kriterien festlegen und Ressourcen bündeln Antrag der Fraktion der FDP – Drucksache 7/711 Neufassung
5) Digitalisierung ist kein pädagogisches Konzept.Stellungnahme Lankau zu drei Anträgen zur Vorbereitung der mündlichen Anhörung im Landtag Thüringen am 10. Dezember 2020, Web: https://futur-iii.de/2020/12/10/digitalisierung-ist-kein-paedagogisches-konzept-2/ ; PDF: http://s528128686.online.de/futur-iii/wp-content/uploads/sites/6/2020/12/anhoerung_thueringen_lankau_screen_4s.pdf
6) Studie: Lockdown kann bei Kindern depressive Verstimmungen auslösen, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/119235/Studie-Lockdown-kann-bei-Kindern-depressive-Verstimmungen-ausloesen; Studie: https://adc.bmj.com/content/early/2020/11/26/archdischild-2020-320372; Studie: Frühjahrs-Lockdown hat ernste Folgen für Kindergesundheit, https://www.rnd.de/politik/studie-fruhjahrs-lockdown-hat-ernste-folgen-fur-kindergesundheit-FJYDJGZC5BAXLL42SGTJI6P3QA.html; Studie Universität Bielefeld im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit; PDF: https://www.dak.de/dak/download/sonderanalyse-2402992.pdf