Der Kaiser ist ja nackt (Teil II)

Landtag Düsseldorf. 94. Sitzung am 4. Mai 2016 (E 16/1636).
Anhörung der Sachverständigen zum Antrag der Fraktion der FDP „Digitale Bildung und Medienkompetenz in den Schulen stärken – durch bundesweite Bildungsstandards, ein Bund-Länder-Sofortprogramm zur Ausstattung der Schulen und eine Qualifizierungsoffensive der Lehrerschaft“ (Drs. 16/10796). Das Sitzungsprotokoll liegt vor. (Auszug aus dem Protokoll; Antworten Lankau, S. 41 -44)


Vorsitzender Wolfgang Große Brömer

Herr Professor Lankau.

Dr.  Ralf  Lankau  (Fakultät  Medien  und  Informationswesen,  Hochschule  Offenburg):

 Jetzt habe ich eine ganze Reihe an Anmerkungen. Ich werde es etwas verkürzen.

Vielleicht als erstes die Replik auf Ihre Frage, Frau Gebauer: Die Aussage, dass die Ausstattung von Schulen mit digitalen Medien ein Wirtschaftsförderungsprogramm sei, beruht sicherlich auf der Forderung, für die Hardware 1.000 € pro Kind auszugeben. Das ist aus meiner Sicht der falsche Ansatz. Wenn wir in diesem Rahmen über Bildung, über Wissen, über Schule, über pädagogische Aufgaben sprechen, dann darf es keine Forderung nach Investitionen in Hardware geben, sondern es muss um die persönliche Förderung, Betreuung, Mentoring und dergleichen gehen. Daher stellte ich mir die Frage, warum der vorliegende Antrag eingereicht wurde.

Frau Beer, die Frage nach der Visualisierung von Informationen – von Haus aus bin ich Kunstpädagoge und Kunstgeschichtler – ist sehr ambivalent zu beantworten. Die Visualisierung aller Lebensbereiche ist sehr stark. Allerdings müssen Schüler auch lernen, Bilder und Grafiken zu lesen. Die Informationen werden ja nicht weniger komplex. Auch ein Text ist interpretationsoffen. Aber die Begriffsdefinitionen – ich bin Philologe – für Bilder sind wesentlich offener. Das heißt, Bilder sind interpretationsoffener. Ich praktiziere das mit Studierenden bei Plakatgestaltungen, bei der Analyse von Bildern, von Filmen, von Bewegtbildern, von Animationen: Je stärker wir visualisieren, desto schwieriger wird auch eine verbindliche, gemeinsame Basis der Interpretation. Das muss im kunstgeschichtlichen Bereich nicht dramatisch sein, aber im wissenschaftlichen Bereich zum Beispiel brauchen wir eine verbindliche Definition.

Der andere Punkt, den ich hier zur Sprache bringen möchte: Denken wir darüber nach, wie sich der Mensch entwickelt. Kinder kommen aus einer bildhaften Welt – bevor sie die Sprache und die Schrift beherrschen. Die Entwicklung des Wortschatzes, der Sprache, der Lesefähigkeit führt dazu, dass wir auch im eigenen Denken autonomer werden. Wir brauchen beides: Bildwelten – wir denken visuell –, aber auch eine entwickelte Sprache.

Schauen Sie sich die Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbücher an. Sie sehen: Der Bildanateil, der Illustrationsanteil geht immer stärker zurück, bis die Büchern für Zwölf- bis 14-Jährige – bei Mädchen etwas eher als bei den Buben – vielleicht noch ein Frontispiz haben, aber ansonsten Textbücher sind. Die Vorstellung, die Vorstellungsbilder, entwickeln wir aus schwarzen Buchstaben. Das ist der Punkt, der uns zur reiferen Intellektualität führt. Deswegen plädiere ich für die Lesekompetenz und nicht die Verbildlichung. Ansonsten würden wir wieder andere brauchen, die uns sagen, was diese Bilder bedeuten.

Unter diesem Aspekt finde ich die Entwicklung der Sprachsysteme ausgesprochen dramatisch. Wenn alle mit Siri, Alexa bei Amazongeräten oder Alice bei Androidgeräten – die Stimme eines jeden Betriebssystems heißt anders – sprechen – Sie erleben das in der Bahn –, gehen die Sprachentwicklung und die Lesekompetenz zurück. Diese Nutzung von Geräten führt dazu, dass immer weniger Menschen tatsächlich in der Lage sind, sinnentnehmend zu lesen, längere Texte zu lesen. Ich möchte ein Beispiel aus der Hochschule nennen: Hier betrifft es die Informatiker. Aber bei meinen Studierenden ergibt sich auch kein anderes Bild. Wenn die Wikipediaeinträge als Lektüre bereits zu lang sind, dann besteht ein großes Problem. Ganze Bücher werden ja ohnehin nur noch selten gelesen.

Zur Frage von Frau Hendricks, zum Begriff des Wissens möchte ich eine Frage stellen: Wer von Ihnen kann valide im Netz recherchieren? Einige von Ihnen haben ein wissenschaftliches Studium abgeschlossen. Aber die wissenschaftlich valide Recherche im Netz ist ein großes Problem. Google fällt als Suchmaschine aus. Womit arbeiten Sie dann? Wikipedia fällt als Quelle aus. Sie wissen nicht, wer im Internet in wessen Auftrag etwas geschrieben hat. Wie arbeiten Sie, wenn in der Schule Zehn- oder Zwölfjährige – beDas gesamte Sitzungsprotokoll als PDFi uns in Baden-Württemberg sind es Siebenjährige – verantwortlich im Netz recherchieren sollen; selbst die bei mir Studierenden können das nicht. Sie müssen ein ganz anderes Repertoire an Basiswissen – nicht an Repetitionswissen – aufbauen, bevor Sie entsprechend arbeiten können. Sie werden wahrscheinlich wissenschaftliche Bibliotheken auf suchen und mit Bibliothekarinnen und Bibliothekaren zusammenarbeiten. Natürlich ist das Web ein wunderbares Instrument für die wissenschaftliche Recherche – wenn ich es beherrsche, wenn ich es einbinden kann in meinen Kosmos des Wissens, den ich über langeJahre entwickelt habe. Aber dieser Kosmos ist bei Kindern und Jugendlichen noch nicht vorhanden.

Zur Frage nach Informatik als Pflichtfach: Was wollen wir unseren Kindern mitgeben? Dualistisches Denken? If-Then-Schleifen? Nur diese Minimallogik? Ich kann dringend davon abraten. Ich möchte, dass Kinder, Jugendliche und Studierende Geschichten entwickeln, Visionen haben, Vorstellungen entwickeln. Sie können das dann hinterher digital produzieren, in Form von Filmen, Hörspielen oder was auch immer. Aber wenn zu früh in die dualistische Logik hineingearbeitet wird, verkürzt es das Denken. Dann fällt man in das SchwarzWeiß-Schema, Null und Eins, richtig und falsch. Bösartig formuliert haben Sie dann als Ergebnis Menschen wie einige US-Präsidentschaftskandidaten; diese denken auch in einem Schwarz-Weiß-Schemata. Das ist nicht meine Vorstellung von jungen Menschen, die in eine demokratische und offene Gesellschaft hineinwachsen.

Die jungen Menschen sollen offen sein. Sie sollen Fantasie entwickeln. Diejenigen, die die Neigung dazu haben, sollen natürlich auch programmieren. Ich als Philologe habe das noch mit 30 gelernt; das ist überhaupt kein Problem. Ich habe mich vorher viel mit Mathematik beschäftigt. Wenn wir logisches Denken fördern wollen, dann intensivier en Sie die mathematische Ausbildung, sodass alle mitkommen. Jeder Mathematiker kann programmieren. Aber nicht alle Informatiker können mathematisch Denken. Auch da müssen wir die Gewichtung richtig sehen.

Zur digital divide – ich hatte es schon angesprochen –: Sie wissen, dass das MIT Onlinekurse anbietet; viel wird ins Netzt gestellt. Das ist ein Selektionskriterium, um zu schauen, wer von den jungen Menschen die geistige Fähigkeit hat, die Kurse abzuschließen. Diejenigen, die richtig gut abgeschnitten haben, erhalten ein Stipendium. Die anderen bekommen ein Zertifikat; diese sind hilfreich für Bewerbungen. Aber es wird niemals einen MIT-Master online zu geben. Um den Abschluss Master zu erwerben, muss man auf dem Campus sein. Man muss miteinander diskutieren.

Die Menschen bekommen das Angebot also im Netz; einige, die das Programm erfolgreich absolvieren, bekommen ein Stipendium oder ein Zertifikat. Denjenigen, die das Programm nicht schaffen, sagt man: „Jeder kann das Zertifikat machen; die Kurse sind online. Es ist eure schuld.“ Die Verantwortung wird zurückdelegiert. Umgekehrt muss ich sagen – ich arbeite jetzt schon 15 Jahre als Professor – :  Kaum einer meiner Studierenden ist ohne Anleitung in der Lage, etwas zu lernen, was komplexer ist.

Natürlich plädiere ich dafür – wer meine Schriften kennt, weiß das –, dass IT in der Schule intensiviert wird. Aber es soll nach einem verantwortlichen Konzept geschehen, nicht in der Grundschule, sondern erst ab der sechsten, siebten Klasse und mit ausgebildeten IT-Lehrern. Es sollte kein BYOD geben; das ist ein Bring-Your-Own- Desaster, da Sie sich damit die sozialen Probleme an die Schule holen. Dann entsteht Neid untereinander. Lehrer haben keinen Zugriff auf die Geräte.

Falls Sie mit digitalen Geräten an der Schule arbeiten wollen: Dafür gibt es Rechner – Raspberry Pi –, die 35 Dollar kosten. Diesen Rechner können Sie programmieren – er hat die Größe einer Chipkarte –, Sie können Laufwerke anschließen und mit ihm ins Netz gehen. Sie arbeiten dann mit vorkonfigurierten Geräten. Sie können Server aufsetzen, Verbindungen aufbauen, Daten verschlüsseln und einen anderen Server hacken. All dies müssen wir thematisieren, aber im Kontext der Schule, offline.  Das gleiche gilt für Medienproduktionen. Dafür müssen wir nicht online sein. Wir haben auch bei uns in der Grafikwerkstatt offline eine Produktionsumgebung und entscheiden selbst, wann wir was ins Netz geben.

Zum kritischen Umgang mit Medien – das korrespondiert mit dem, was Herr Liessmann gesagt hat
–: Wir bilden Medienstudierende aus. Diese können produzieren und analysieren. Der kritische Umgang mit den Medien ist ausgesprochen schwierig zu vermitteln. Ich habe mit meinen Studierenden heftige Diskussionen, wenn ich solche Themen ansprechen will. Die Studierenden können natürlich die Geräte bedienen, die Software bedienen und Medien produzieren. Aber dass wir als Medienschaffende auch  darüber diskutieren müssen, was wir machen, das ist selbst in einem Medienstudiengang nicht gegeben. Daher bin ich zumindest etwas kritisch. Sie, Herr Liessmann, sagten, ich müsse die Braunsche Röhre nicht verstehen, um über das Medium Fernsehen zu reflektieren. Wahrscheinlich müssen wir noch einmal nachjustieren.

Zur verpflichtenden Fortbildung von Lehrkräften zum Thema „Digitale Medien“: Da – das muss ich ehrlich sagen – komme ich als Lehrender allmählich an die Grenze meines demokratischen Verständnisses. Warum sollten wir alle Lehrer verpflichten – unabhängig vom Fach – mit digitalen Medien zu arbeiten? Sie sind doch kein Selbstwert und kein Selbstzweck. Überlassen wir es den Lehrerinnen und Lehrern,  ob sie mit diesen Medien arbeiten wollen und zu welchem Zweck sie diese nutzen wollen. Dass  Schulen da, wo es sinnvoll ist, Hardware, Software sowie die Netzanbindung anbieten, ist gar keine Frage. Aber es muss der Hoheit der einzelnen Lehrpersönlichkeit unterliegen, wie die Fachinhalte vermittelt werden – abhängig von der Altersstufe der Klasse, vom Thema, vom Fachinhalt und der Persönlichkeit der Lehrkraft. – Ich denke, dabei belasse ich es.

Vorsitzender Wolfgang Große Brömer:

Danke, Herr Professor Lankau.