Ein Gespräch von Ralf Merkle, Landesgeschäftsführer Realschullehrerverband Baden-Württemberg RLV, mit Prof. Dr. phil. Ralf Lankau zum Titelthema „Digitale Transformation von Schule?“
Der ganze Beitrag als PDF: Der Realist: Interview Lankau (Heft 2/2020)
REALIST: Herr Professor Lankau – halten Sie Asimovs Zukunftsvision, die er in seiner Erzählung „Die Schule“ schildert, wirklich für realistisch?
LANKAU: Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Pädagogisch ist diese Form der automatisierten Beschulung und das kleinteilige Testen von Lernleistung keine Option. Lernen ist an sich ein individueller und sozialer Prozess, wir lernen im Dialog und in Beziehung, wir brauchen ein Gegenüber. Margies Lernmaschine erlaubt nur eine Form von Drill und führt allenfalls zu Lernbulimie.
Aber es gibt IT-Unternehmen, die solche Techniken bereits an Schülerinnen und Schülern ausprobieren. Ein Beispiel ist Facebook mit „Summit Learning“. Das Versprechen: Eltern kaufen einen Laptop, die Schule stellt die Räume und Sozialcoaches als Aufsicht, Facebook übernimmt das Unterrichten übers Netz. Es ist komplett gescheitert. Die Eltern haben ihre Kinder reihenweise ab- und auf kostenpflichtige Privatschulen umgemeldet, weil den Kindern der Sozialkontakt fehlte und sie am Laptop körperlich und psychisch regelrecht verkümmerten.
REALIST: Welche Anzeichen der Verwirklichung dieser „digitalen Zukunftsvision von Schule“ sehen Sie schon heute?
LANKAU: Digitale Zukunftsvision von einer Schule werden seit über 30 Jahren, für jede neue Gerätegeneration und mit den immer gleichen Argumenten formuliert: Rechner und Software seien modern, innovativ. lernförderlich und motivierend. Wissenschaftlich belegt ist davon nichts, im Gegenteil. Ob bei der OECD-Studie zu Resilienz, bei Hattie oder anderen Untersuchungen besteht Konsens darüber, dass gelingender Unterricht immer an die Lehrpersönlichkeit und den gemeinsamen sozialen Raum gekoppelt ist.
Wichtiger als Technik sind die wechselseitige Achtung und Akzeptanz. Kinder und Jugendlich spüren sehr genau, ob man an ihrem Lernen und Verstehen interessiert ist oder nicht. Notwendig sind zudem klare Strukturen und Regeln, gerade für Kinder und Jugendliche aus eher bildungsfernen Schichten.
All das wird negiert bei der derzeit geforderten digitalen Transformation von Bildungseinrichtungen mit dem Ziel der digitalen Organisation von Schule und Unterricht. Lernen soll messbar werden und möglichst vorhersagbare Ergebnisse „produzieren“. Die Konzepte kommen aus der Konsumgüterindustrie und werden auf soziale Einrichtungen übertragen. Die Begriffe sind Prozesssteuerung und -optimierung, Effizienz und Kostenreduktion. De facto ist es Automatisierung. Digitaltechnik ist nur die technische Infrastruktur. Im Kontext Schule wird daraus die „Produktion von Humankapital mit validierten Kompetenzen“ (Humankapitaltheorie).
Die Theorien und Modelle im Kontext Schule sind empirische Bildungsforschung und datengestützte Schulentwicklung. Dafür braucht man immer mehr Daten, dafür werden von Psychologen immer neue Methoden entwickelt und an Schülerinnen und Schülern getestet, die per Learning Analytics ausgewertet werden. Im Grunde sind es uralte Hoffnungen: Dass man alles berechnen und mit Hilfe der passenden Methoden, Medien und Techniken kontrollieren und steuern könne. Das Problem: Bei technischen Abläufen funktioniert es, nur sind Menschen, zum Glück keine Maschinen, sondern Individuen. Damit kommt es zum Gegensatz Humanität vs. Digitalität.
REALIST: Eine Digitalisierung, wie von Ihnen eben beschrieben, würde also letztlich zu einer „inhumanen Schule“ führen?
LANKAU: Ja, wenn man Empirikern, Psychologen und Systemanbietern die Regie überlässt. Empiriker arbeiten mit Daten, wie jede Wissenschaft. Aber zur Auswertung gehören bei Empirikern wie Psychologen Statistik und Mustererkennung. Sobald man anfängt, Lernleistungen zu vermessen, muss man Prozesse und Ergebnisse standardisieren. Wir beobachten schon länger, dass immer mehr Tests in die Schulen kommen für nationale und internationale Rankings, PISA etwa. Diese Rankings sind aber nicht sehr aussagekräftig, weil sie weltweit normiert sind und die nationalen Bildungssysteme nicht berücksichtigen. In vielen asiatischen Schulen etwa ist es eine Ehre, teilzunehmen und man vertritt die Schule und das Land und beschämt die Nation mit schlechten Ergebnissen. Bei uns ist die Teilnahme eher lästig. Oder die USA: Amerikanische Jugendliche schnitten im Mathe-Test schlecht ab, letztes Drittel. Eine Forschergruppe hat ihnen daraufhin für jede richtig gelöste Mathematikaufgabe einen Dollar versprochen. Die gleiche Gruppe hat, ohne eine Stunde Mathe mehr, vergleichbar schwere Aufgaben so gut gelöst, dass sie im Mittelfeld gelandet wären. Der Unterschied: Das Anreizsystem hat gestimmt.
Noch wichtiger aber ist: Bildung ist nicht messbar. Wir verkürzen durch das Testen Schule und Unterricht auf Messbares. Das bedient zwar die Testindustrie, sorgt aber nicht unbedingt für Verstehen bei Schülerinnen und Schülern. Peter Bieri hat formuliert: „Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. (…) Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“ (2005) Dieses Bildungsverständnis ist an das Individuum und an Persönlichkeit gebunden. Beides kann man nicht messen. Wir müssen den Blick daher wieder weiten und Bildungsprozesse ermöglichen statt sie auf messbare Lernleistungen zu verkürzen.
REALIST: Trotzdem wiederholen ja viele Bildungspolitiker und zahlreiche in der Öffentlichkeit sehr präsente Stiftungsvertreter von Firmen immer wieder gebetsmühlenartig, dass die Digitalisierung den Unterricht besser mache und auch für mehr „Bildungsgerechtigkeit“ sorge. Stimmt das also nicht? Die „Corona-Krise“ hat doch gezeigt, dass viele Schulen technisch auf Fernunterricht nur schlecht vorbereitet sind. Brauchen wir nicht gerade deshalb einen dramatischen Digitalisierungsschub für alle?
LANKAU: Keine Medientechnik und kein Medium macht Unterricht per se besser oder gerechter. Die OECD-Studie zu Resilienz belegt, dass der Einsatz von Computern die soziale Schere sogar aufgehen lässt, weil Kinder und Jugendliche auch in der Schule wieder vor einem Bildschirm sitzen und sich abgeschoben fühlen. Gerade Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten brauchen ein direktes Gegenüber, eine Lehrpersönlichkeit, die ihnen zugewandt ist. Lernen ist Interaktion, auf der Basis von Vertrauen. Dazu kommen klare Strukturen und Regeln. Die Qualität von Unterricht hängt immer und wissenschaftlich belegt von der Lehrpersönlichkeit ab und vom sozialen, lernfreundlichen Umfeld. Schulen sind soziale Räume, auch Schutzraum. Lernen gelingt in Beziehung und durch Vertrauen. Oder philosophisch: Der Mensch ist des Menschen Lehrer auch wenn es nicht immer Lehrerinnen und Lehrer sind, sondern auch Geschwister, Nachbarn, Freunde. Aber wir brauchen ein Gegenüber.
REALIST: Und die Medien?
LANKAU: Ein Kollege erklärt wunderbar an der Tafel, die andere mit Hilfe von Tablet und Beamer oder umgekehrt. Wir setzen seit über 30 Jahren PCs, Laptops und heute Tablets ein, das ist kein Qualitätsmerkmal, eher im Gegenteil. Wer glaubt, die technische Ausstattung von Schulen sei ein Garant für gelingenden Unterricht irrt oder verfolgt eine eigene, meist kommerzielle Agenda. Man sollte es den Lehrkräften überlassen, welche Medien sie im Unterricht einsetzen.
Dass die Schulen auf Fernunterricht nicht vorbereitet waren, ist richtig. Das mussten Sie auch nicht sein, weil Schulen in Deutschland normalerweise Präsenzschulen sind – und bleiben müssen. Fernunterricht ist pädagogisch immer ein Kompromiss und wird normalerweise nur eingesetzt in Ländern, in denen Kinder aufgrund großer Distanzen nicht zur Schule kommen können, wenn sie krank sind oder in Ausnahmesituationen wie einer Pandemie. Dazu gehört aber auch, klar zu formulieren, dass nicht die Technik entscheidend ist für Fernunterricht, sondern eine intensive Betreuung, in Kleingruppen oder sogar in Einzelgesprächen. Fernunterricht ist personalintensiv, Technik nur die notwendige Infrastruktur. Die muss aber für Fernunterricht anders konzipiert werden als für das automatisierte Beschulen und Testen per Schulcloud und Lernmanagement- bzw. Lernkontrollsoftware.
REALIST: Wem nützt also die Digitalisierung, die von diesen Digitalisierungsbefürwortern propagiert wird?
LANKAU: In Amerika gibt es einen simplen Spruch dafür: Follow the money. Bei uns heißt er: Cui bono? Wem nützt es? Bei den von der IT-Wirtschaft vertretenen Konzepten wie etwa Tablet-Klassen profitieren eindeutig die Anbieter von Hard- und Software und entsprechenden Dienstleistungen. Versprochen wird eine IT-Infrastruktur aus einer Hand (Apple, Google, Microsoft u.a.). Die großen Vertreter der Global Education Industries (GEI) und der EdTEch-Startups (Education Technologies) bereiten sich ihre Märkte. Für diese Anbieter sind alle Bildungseinrichtungen Märkte, die wie andere Märkte beworben und bespielt werden. In Deutschland gibt es z.B. eine gemeinnützige Stiftung, die in Studien die Digitalisierung fordert und mit ihrem nicht gemeinnützigen Unternehmen gleichen Namens den Bildungsmarkt bedient.
Es ist ein Milliardenmarkt. Laut GEW-Studie „Bildung. Weiter denken. Mehrbedarfe für eine adäquate digitale Ausstattung der berufsbildenden Schulen“ vom September 2019 decken die bislang propagierten 5,5 Milliarden Euro des Digitalpaktes nur knapp ein Viertel des Gesamtbedarfs aller Schulen ab. Allein für die Mindestausstattung der Berufsschulen, die ohne aktuelle Rechner und IT nicht ausbilden können, seien eine Milliarde Euro pro Jahr erforderlich, die Pakt-Gelder damit aufgebraucht. Für allgemeinbildende Schulen würden in den kommenden fünf Jahren weitere 15,76 Milliarden Euro benötigt. Daraus ergebe sich ein Gesamtbedarf von 21,025 Milliarden Euro – ein Markt, den sich die IT-Wirtschaft gewiss nicht entgehen lässt.
REALIST: Sie sprachen gerade von einer „gemeinnützigen Stiftung“, die vehement die Digitalisierung fordert und gleichzeitig mit ihrem Unternehmen den Bildungsmarkt bedient. Ich denke mal, dass Sie damit die „Bertelsmann-Stiftung“ meinen. Bei meinen Recherchen zum Thema bin ich auf der Seite der Bertelsmann AG im Bereich „Strategie Wachstumsplattformen“ auf einen Satz gestoßen, der mich nachhaltig irritiert hat. Da stand „Gleichzeitig sorgt die Digitalisierung dafür, dass Bildung auch online in guter Qualität ausgeliefert werden kann“. Ist Bildung für diese Unternehmen eine Pizza, die auf Bestellung geliefert werden kann?
LANKAU: Ja, es sind Manager, die „Bildung“ als Produkt vermarkten wie eine Pizza oder wie eine Dienstleistung, etwa einen Streamingdienst. Man bezahlt für Kurse und bekommt Zertifikate. Das ist der Deal. Die Gütersloher versprechen unter dem Label Bertelsmann Education Group, das „Lernen im 21. Jahrhundert“. Schwerpunkte sind derzeit Hochschulen und E-Learning-Angebote wie Relias sowie Beteiligungen an HotChalk und Udacity. Dazu kommen Dienstleistungen in der Weiterbildung. Der aktuelle Umsatz liegt bei 333 Mio. Euro, aber der internationale Bildungsmarkt ist, auch ohne Covid-19, einer der dynamischsten expandierenden Märkte.
REALIST: Ein bekannter Verfechter der, ich nenne es jetzt vereinfacht mal „Automatisierung der Schule“ aus der Schweiz hat vor kurzem gefordert, dass sich Lehrerinnen und Lehrer nicht um Datenschutz zu kümmern haben. Schließlich würde er als Lehrer auch nicht, bevor er seine Schule betritt, die Erdbebensicherheit des Schulgebäudes überprüfen. Können wir es uns so einfach machen?
LANKAU: Nein. Schweizer Freunde haben mir den Beitrag geschickt und ich bin entsetzt. Das erschreckende ist, dass dieser Lehrer sich vehement für Digitaltechnik in Schulen einsetzt, aber jede Form von kritischem Diskurs verweigert. Ich habe dazu eine Replik geschrieben: Digital-Apostel in Vogel-Strauß-Manier oder: Sprechverbote über den Einsatz von Digitaltechnik und Datenschutz in Schulen sind keine Lösung und auch einen längeren Beitrag (Digitalapostel in Vogel-Strauss-Manier 02). Denn was bei der Argumentation dieses Digitalisten prototypisch zu beobachten ist, ist die Delegation der Verantwortung an vermeintliche „Experten“.
Die Verantwortung für das eigene Tun zu verweigern ist ein Rückfall in die Zeit vor der Aufklärung oder eine Position der Gegenaufklärung. Immanuel Kant schrieb 1784 in seinem Text „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“ Verdrießliche Geschäfte sollen andere machen? Eine meiner Thesen zur Digitalisierung ist: Digitaltechnik, wie sie derzeit aus dem Silicon Valley kommt, ist Technik der Gegenaufklärung. Menschen werden daran gewöhnt zu tun, was Maschinen ihnen sagen. Das ist Erziehung zur Unmündigkeit widerspricht dem Bildungsauftrag von Schulen.
REALIST: Wir vom Realschullehrerverband wehren uns seit Jahren vehement gegen den Begriff „Lernbegleiter“, der vor allem an Gemeinschaftsschulen für Lehrkräfte verwendet wird. Gerne werden wir dafür als „Ewig-Gestrige“ bezeichnet. Wie sehen Sie die Verwendung des Begriffes „Lernbegleiter“? Nur eine modernere Bezeichnung oder steckt aus Ihrer Sicht mehr dahinter?
LANKAU: Der Begriff Lernbegleiter ist für mich das Synonym für pädagogische Arbeitsverweigerung.
Wir sind als Pädagogen keine Begleiter, sondern ganz entscheidende Akteure. Wir strukturieren und gestalten den Unterricht, lehren und unterstützen individuell. Wir sind aufgrund unseres Studiums und der Lebens- wie zunehmender Lehrerfahrung in der Lage binnendifferenziert zu fördern und sind vor allem als Lehrpersönlichkeit Ansprechpartner und Vorbild. Es geht im Klassenverbband ja nicht nur um die Vermittlung von Fachwissen, Fertigkeiten und Können, sondern auch darum, junge Menschen zu erziehen auf ihrem Weg zu selbstverantwortlichen und sozialen Mitgliedern der Gemeinschaft. Der Pädagoge ist daher im umfassenden Sinn der Führer der Jugend, auch wenn der Begriff im Deutschen negativ besetzt ist. Ich benutze ihn im Sinne von Berg- oder Bootsführer und Mannschaftsführer, als Person mit besonderer sozialer Verantwortung aufgrund von Erfahrung und Verantwortung.
Der Vorwurf, „ewig Gestriger“ zu sein, ist lachhaft. Der Mensch lernt heute nicht anders als vor 100 oder 1000 Jahren. Biologische Veränderungen der Physis, Psyche oder Kognition ändern sich nicht in den Rhythmen technischer Innovationen. Wir können den Spieß aber gerne umdrehen: Egal, welche Technik auf den Markt kommt, werden sich immer Vertreter in den Kollegien finden, die deren Einsatz umgehend im Unterricht fordern. Der Schweizer Pädagogikprofessor Carl Bossard, nennt solche Technikfetischisten die „ewig Morgigen“. Alles wird sofort im Unterricht eingesetzt. Wenn dann etwas nicht funktioniert, kommt sogleich ein „es funktioniert noch nicht, weil … die Lehrer/innen die Technik noch nicht richtig einsetzen würden, die Schüler/innen den Umgang erst lernen müssten, die Systeme noch nicht richtig konfiguriert seien, die Programme erst noch optimiert werden müssten etc.pp. Dabei kommt es im Unterricht auf anderes an als Technik: auf das Miteinander.
REALIST: Wie sieht für Sie eine sinnvolle, den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schülern gerecht werdende Digitalisierung der Schule aus? Welchen Weg sollten Schulen einschlagen und gibt es Grenzen dabei, die nicht überschritten werden sollten?
LANKAU: Digitaltechnik ist, wie jede Technik, ambivalent. Auf der einen Seite faszinierend, auf der anderen ein potentielles Überwachungs- und Kontrollsystem. Man kann es gut an zwei Büchern von Jaron Lanier festmachen. Er ist Chefentwickler bei Microsoft und trägt den leicht anarchistischen Titel Octopus: „Office of the Chief Technology Officer Prime Unifying Scientist. Auf Deutsch ungefähr: Büro des Cheftechnologen und Universalgelehrten.“ (Spiegel 45, 2018) Er hält mehr als 60 Softwarepatente und ist ein Visionär des Digitalen. Im ersten Buch von 2018, „Anbruch einer neuen Źeit“, beschreibt er, wie Forschungsgruppen das Konzept der virtuellen Realität (VR) und entsprechend Endgeräte (Brillen) und passende Software entwickelt haben. Es ist spannend geschrieben und man kann die Begeisterung und Faszination miterleben, die zur Entwicklung der 3D-Brillen, 3D-Computerspielen und Cyberwelten geführt haben. Das zweite Buch heißt: „Zehn Gründe, warum Du Deine Social Media Accounts sofort löschen musst“. Es ist eine klare Absage an die Manipulation von Nutzern durch Social Media-Anwendungen und Psychotricks. Das heißt, ein Urgestein der IT unterscheidet sehr klar zwischen zukunftsweisenden neuen Technologien auf der einen und digital basierten Geschäftsmodellen zu Lasten der Nutzerinnen und Nutzer auf der anderen Seite.
Das Ziel von Schulen muss sein, diese Ambivalenz des Digitalen und Unterscheidungskriterien zu vermitteln, um zwischen sinnvollen und nur kommerziellen Angeboten zu differenzieren. Denn als Werkzeug und Instrument können Digitaltechniken sehr hilfreich sein, aber Technik darf den Menschen nicht beherrschen oder (etwa unterbewusst) manipulieren. Daher ist die zweite Aufgabe die Dekonstruktion der Heilslehren des Digitalen bis zum Transhumanismus, d.i. die unhaltbare Behauptung, man könne das menschliche Bewusstsein technisch transformieren und ins Netz laden und damit (wieder einmal) unsterblich werden.
Schulen müssen dieses Evangelium des Digitalen entzaubern und deutlich machen, was Datenverarbeitungssysteme sehr gut können: Daten verarbeiten und Routineaufgaben übernehmen. Digitaltechnik ist im Kern Automatisierungstechnik und ja, vieles lässt sich automatisieren. Der Begriff dafür ist Prozessoptimierung. Das lässt sich maschinell abbilden. Das hat nichts mit (künstlicher) Intelligenz zu tun, sondern mit Mathematik. Aber was Algorithmen, also Handlungsanweisungen für Rechner, machen, ist im Kern Mustererkennung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Damit lassen sich viele (technische) Aufgabe lösen, aber wie Einstein gesagt haben soll: „Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt.“ Was sich nicht berechnen (und standardisieren) lässt, ist das Soziale, das Humane und das Individuelle. Wir müssen wieder lernen zu unterscheiden, bei was Technik uns helfen kann und wo der Mensch als Mensch gefragt ist.
REALIST: Welche Rolle sollen dabei künftig die Lehrkräfte einnehmen?
LANKAU: Lehrerinnen und Lehrer sind in einer zunehmend technisierten, digitalisierten und in Pandemie-Zeiten auch in der Schule virtualisierten Welt ein wichtiger und notwendiger Anker und Gegenpol. Sie sind als Lehrpersönlichkeit eine zentrale Bezugspersonen und im Idealfall Vorbild. Gerade junge Menschen sind den vielen Optionen und Versuchungen der virtuellen Welten ohne ausreichendes Reflexionsvermögen ausgesetzt. Daher müssen Lehrende in allen (Hoch)Schulformen ihre Schülerinnen und Schülern oder Studierenden Methoden und ein Instrumentarium vermitteln, damit sie selbst qualifiziert analysieren und entscheiden können, was sie von all den neuen Techniken, Medien und Geräten brauchen – und was nicht. Nur weil etwas auf dem Markt ist, muss ich es nicht konsumieren. Noch wichtiger ist zu vermitteln, dass das echte Leben nicht im digitalen Raum oder an Display und Touchscreens stattfindet, sondern notwendig in der realen Welt, in Gemeinschaft mit realen Anderen. Für das Miteinander braucht man gemeinsame Zeit und Vertrauen, vielleicht das Schlüsselwort der Pädagogik.
„Nichts kann den Menschen mehr stärken, als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“ (Paul Claudel)
REALIST: Vielen Dank für das Gespräch Herr Professor Lankau!
Das Gespräch führte Ralf Merkle, Landesgeschäftsführer. (https://www.rlv-bw.de/home)
Der ganze Beitrag als PDF: Der Realist: Interview Lankau (Heft 2/2020)